Zurück zu den Hanfwurzeln

In den letzten Jahren hat sich in Deutschland eine vielfältige Reggae-Szene etabliert, die so umtriebig wie multikulturell ist. Der Nachwuchs steht schon vor der Tür: Martin Jondo aus Berlin, Irie Revoltés aus Heidelberg und Onejiru aus dem Ruhrgebiet

Diebstahl ist strafbar. Aneignung dagegen gilt als künstlerische Technik. Wo soll man die Grenze ziehen?

Von THOMAS WINKLER

Alles muss irgendwann in den frühen Neunzigerjahren begonnen haben, als Reggae hierzulande noch allenfalls von politisch engagierten Einzelkämpfern wie Hans Söllner im bayerischen Mundartidiom betrieben wurde. Doch erste Enthusiasten gründeten damals schon die ersten Sound Systems, wie sich jene DJ-Kollektive nannten, die in Jamaika traditionell von Lkws herunter Straßenpartys beschallten. Hierzulande mussten sich Silly Walks aus Hamburg, das Pow Pow Movement aus Köln oder Concrete Jungle aus Berlin schon aus klimatischen Gründen meist in geschlossene Räume zurückziehen. Doch die Saat war gelegt. Schnell zog die Musik nicht mehr nur blonde Möchtegern-Rastas, sondern auch hedonistisch veranlagte Mitglieder von Dritte-Welt-Komitees, von der Kommerzialisierung des Rap verdrängte Migrantenkinder und schließlich auch durchschnittliche Vergnügungssüchtige an.

Seitdem sind Reggae und seine Abarten – der elektronische, dem Rap verwandte Dancehall und die reduzierten Rhythmusexperimente des Dub – in Deutschland keine sommerlichen Hit-Importe mit Exotenbonus mehr. Mittlerweile hat sich auch hierzulande eine lebendige Szene entwickelt, die zuerst die Traditionen aus Jamaika pflegte und schließlich die Genre-Regeln so geschickt auf bundesrepublikanische Wirklichkeiten übertrug, dass sich auch der kommerzielle Erfolg einstellte.

Diese Szene ist ebenso vielfältig wie ihr Publikum. Die elfköpfige Reggae-Eingreiftruppe Seeed zelebriert in ihren Shows alle Aspekte der jamaikanischen Kultur und repräsentiert gleichzeitig in vielsprachigen Texten ihre multikulturelle Heimatstadt Berlin. Die ebenfalls aus der Hauptstadt stammenden Ohrbooten übersetzen mit überraschendem Erfolg den Reggae in Straßenmusik mit Berliner Schnauze. Der Frankfurter D-Flame berichtet über knalligen Dancehall-Beats von seinem Dasein als Afrodeutscher im Hessischen. Der Kölner Patrice braucht allein Gitarre und Charme, um Herzen zu brechen. Der Reggae-Bänkelsänger Mellow Mark vertont die Parolen der Antiglobalisierungsgegner. Jan Delay, alias Eißfeldt, von der Hamburger Hiphop-Crew Beginner, analysiert hellsichtig bundesrepublikanische Wirklichkeiten. Die sieben Mitglieder von Culcha Candela (oder ihre Eltern) stammen aus Uganda, Polen, Kolumbien, Korea und Deutschland und bringen Ironie, sozialkritische Texte und den unbedingten Willen zur Party in Einklang.

Und der Nachwuchs steht schon vor der Tür: Martin Jondo begann als Fan von Gentleman, des momentan erfolgreichsten Reggae-Act hierzulande. Seine ersten Erfahrungen im Musikgeschäft sammelte der Sohn einer Koreanerin und eines Deutschen unter den Fittichen des erfolgreichen Vorbilds, als Verkäufer am Merchandising-Stand und gelegentlicher Gast auf der Bühne bei der Tournee von Gentlemans „Journey to Jah“. Dann allerdings kam es zum Bruch mit dem Mentor. Doch auf seinem ersten Album „Echo & Smoke“, das Ende Juni erscheint, adaptiert der Berliner ähnlich liebevoll die gleichen Roots-Klischees wie sein Kölner Vorbild Gentleman.

Der hatte sogar in mühevoller Kleinarbeit Patois erlernt. Jondo dagegen singt nicht im jamaikanischen Slang von seiner Liebe zu Jah, sondern in Englisch davon, was ihm auf dem Herzen liegt. Grundsätzlich aber wiederholt Jondo – wenn auch auf bislang kommerziell bescheidenerem Niveau – das Erfolgsrezept seines Förderers, indem er die heimischen Reggae-Fans mit einem nahezu perfekten Nachbau eines jamaikanischen Lebens im Off-Beat versorgt. Das geht so weit, dass Jondo in einem Song wie „All I Never Know“ ebenso dreist wie erfolgreich dem Säulenheiligen Marley nachstellt.

Nun ist Diebstahl zwar strafbar. Aneignung dagegen genießt als künstlerische Technik hohes Ansehen. Die Frage ist nur: Wo hört das eine auf, wo beginnt das andere? Eine Frage allerdings, die sich die Reggae-Szene hierzulande lange schon nicht mehr stellt. Stattdessen sprießen die Dreadlocks, kreisen die Joints und wird fröhlich alles adaptiert, was in Jamaika aus dem Radio dröhnt.

Die germanischen Kopien haben im Vergleich zu den karibischen Originalen sogar zwei entscheidende Vorteile: Zum einen sind die heimischen Interpreten jederzeit verfügbar, während die Konzertreisen der jamaikanischen Stars regelmäßig abgesagt werden müssen. Vor allem aber entledigen Sänger wie Gentleman oder Jondo – trotz aller Bemühungen um eine möglichst detailgenaue Umsetzung des Originals – die von der Rastafari-Religion geprägte Musik weitgehend von ihren homophoben und sexistischen Tendenzen, die der hiesigen Gemeinde zusehends aufstoßen, seit der Reggae sich immer mehr ein Mainstreampublikum erschließt.

Dieses Publikum allerdings will nicht nur möglichst nicht von den mitunter mittelalterlichen Vorstellungen jamaikanischer Sänger belästigt werden, sondern interessiert sich prinzipiell wenig für die spirituellen Grundlagen der Musik. Schon als Bob Marley seine weltweiten Erfolge feierte, war dem Großteil seiner Hörer herzlich egal, dass er in seinen Texten Haile Selassie verehrte und die Heimkehr nach Afrika propagierte. Reggae wurde damals zum weltweit akzeptierten Synonym für sommerliche Entspannung – und ist es grundsätzlich bis heute geblieben. Kaum ein Jahr, das ohne einen Sommerhit wie „Sunshine Reggae“ ins Land geht. Aber selbst dieser Sommerhit kommt mittlerweile bisweilen aus deutschen Landen: Etwa 2003, als PR Kantate mit „Görli, Görli“ ein Achtungserfolg gelang.

Dabei passen Bands wie Irie Révoltés heutzutage das Genre ganz entschieden den hiesigen Verhältnissen an. Die neun Heidelberger singen und rappen über die Festung Europa und die Asylgesetzgebung, über die Konsumgesellschaft und Kriegsdienstverweigerung.

Auf ihrem zweiten Album, „Voyage“, ist Reggae nicht der Soundtrack für einen entspannten Sommertag, sondern eine Hintergrundfolie, auf der bundesdeutsche Realitäten abgebildet werden können. Dass Irie Révoltés dazu nicht nur die deutsche, sondern vornehmlich die französische Sprache benutzen, hört sich nicht nur eleganter an, sondern ist auch logisch, weil die beiden singenden Brüder, Pablo und Carlos Charlemoine, Halbfranzosen sind.

Aus Wanne-Eickel stammt dagegen Onejiru. Geboren aber ist sie in Kenia, und bislang hat sie mit ihrer Stimme die Songs von Jan Delay oder Patrice verziert. Auf ihrem ersten eigenen Solo-Album, „Prophets of Profit“, singt sie nun in Englisch und Suaheli. Hinter Onejiru steht Produzent Matthias Arfmann, der schon die Absoluten Beginner und Patrice zu größerer Prominenz remixte und der sich in der Reggae-Szene einen Namen mit seinem Dub-Produktionen, vor allem dem losen Projekt Turtle Bay Country Club, gemacht hat. Bereits dort setzte Arfmann des Öfteren die Sängerin Onejiru ein.

In den Songs auf „Prophets of Profit“ allerdings sind Dub und Reggae nur mehr Ahnungen, scheinen kaum noch durch den edlen Club-Sound, der zum gemütlichen Cocktailschlürfen ebenso einlädt wie zum vorsichtigen Tanzbeinschwingen. Diese Musik hat nun gar nichts mehr gemein mit den Sommer-Sonne-Sportzigarette-Klischees, die Reggae immer noch mit sich herumträgt. „You can’t be happy with a stolen culture“, singt Onejiru. Da ist was dran.

Onejiru: „Prophets of Profit“ (Golden Delicious/Soulfood); Irie Révoltés: „Voyage“ (Skycap/Rough Trade); Martin Jondo: „Echo & Smoke“ (Homeground/Groove Attack)