Wann ist ein Leben vollendet?

TOD Niederländische Bürger fordern, dass auch gesunde ältere Menschen ihr Leben mit Sterbehilfe beenden dürfen. Sie erhalten Zuspruch

Das Gesetz: Als weltweit erstes Land führten die Niederlande die Straffreiheit von Euthanasie ein. Im April 2002 trat ein Gesetz in Kraft, das Ärzte bei aktiver Sterbehilfe von strafrechtlicher Verfolgung freistellt, wenn sie strenge Sorgfaltskriterien erfüllen: Euthanasie darf nur aus freiem Willen und nur auf Verlangen des Patienten geschehen, und der Patient muss aussichtslos und unerträglich an einer Krankheit leiden. Eine deutliche Mehrheit der Niederländer war damals für das Gesetz. Fast 30 Jahre hatte die kontroverse Debatte gedauert, christliche Parteien und die Kirchen waren dagegen. Im Parlament kam es mit den Stimmen der sozialdemokratischen PvdA, der sozialliberalen D66 und der Liberalen zustande.

Die Petition: Im Juni wählen die Niederländer ein neues Parlament. Anschließend wird es dort aufgrund der erfolgreichen Petition der BI „Aus freiem Willen“ eine Debatte über das „vollendete Leben“ geben. (swa)

AUS ARNHEM GUNDA SWANTJE

Würdig und selbstbestimmt nach einem vollendeten Leben durch Euthanasie oder Hilfe bei Selbsttötung sterben – dieses Recht für Ältere möchte die Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende (NVVE) mit Sitz in Amsterdam gern legalisiert sehen. Gemeinsam mit der jüngst gegründeten Bürgerinitiative „Aus freiem Willen“ startete sie die Kampagne „Vollendetes Leben“, die eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit bewirken soll. Einen ersten Erfolg gibt es bereits: Die BI hat in kurzer Zeit 117.000 Unterschriften gesammelt. 40.000 sind nötig, um das Thema im Haager Parlament auf die Tagesordnung zu setzen.

Ein vollendetes Leben durch Sterbehilfe beenden: Welche Gedanken stecken dahinter? „Niemand ist verpflichtet zu leben“, schreiben die Gründer der BI, fünfzehn prominente ältere Expolitiker, Künstler, Professoren, Medienschaffende, auf ihrer Website. „Dem freien Menschen, der sein Leben als vollendet ansieht, steht zu, selbst zu bestimmen, wie und wann er sterben will.“

Die Menschen werden heutzutage viel älter, meist zum eigenen Vergnügen. Aber Ältere können auch überzeugt sein, so die BI, dass die Würde und der Sinn des eigenen Lebens so sehr abgenommen haben, dass man den Tod dem Leben vorzieht. Als Ursachen werden genannt: das Gefühl, sich selbst zu überleben, die Gefahr, in totale Abhängigkeit von anderen zu geraten und die Regie über das eigene Leben zu verlieren, sowie die Angst vor dem körperlicher Verfall, der den Verlust der persönlichen Würde zur Folge hätte.

Petra de Jong, Vorsitzende der NVVE, führt im Gespräch einen weiteren Grund an: Etwa 400 der 1.500 Selbstmorde, die in den Niederlanden jährlich in etwa stattfinden, werden von Menschen über 65 begangen. Laut Umfrage der NVVE sollen in den vergangenen drei Jahren in 22 Prozent der Pflegeheime Selbstmorde oder Selbstmordversuche stattgefunden haben. „In 60 Prozent der Fälle war bekannt, dass die Menschen ihr Leben als vollendet ansahen“, so Petra de Jong. „Als Gesellschaft sollten wir imstande sein, zu verhindern, dass Ältere Selbstmord begehen – alleingelassen und auf grausame Weise.“

Eine vergessene Gruppe

Euthanasie und Hilfe bei Selbsttötung ist prinzipiell in den Niederlanden strafbar. Doch gibt es Ausnahmen. Seit April 2002 gilt ein Gesetz, das Ärzte bei aktiver Sterbehilfe von der Strafverfolgung freistellt, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind und sie nachweislich sorgfältig handeln. Sterbehilfe ist nur erlaubt auf die freiwillige, wiederholte und wohl überlegte Bitte eines Patienten hin und nur, wenn dieser an einer klassifizierbaren Krankheit „unerträglich und aussichtslos leidet“. Ein zweiter Arzt ist hinzuzuziehen, ein unnatürlicher Tod muss gemeldet werden. Eine Kommission prüft dann den Fall. Vollendete Leben, im Prinzip also gesunde lebensmüde Menschen, fallen nicht unter dieses Gesetz. Die Initiatoren der Kampagne bezeichnen diese älteren Menschen als „vergessene Gruppe“.

„Der Mensch muss wichtige Entscheidungen in seinem Leben selbst treffen können“, ist Ton Vink überzeugt. Der Philosoph mit eigener Praxis berät seit über zehn Jahren Menschen mit Todeswunsch. „Ein Leben beenden ist ein weitreichender Beschluss. Darüber sollte man mit Partnern, Kindern, Freunden sprechen, wenn es sie gibt und wenn es geht, denn sie müssen mit der Entscheidung weiterleben. Ich plädiere für Selbstbestimmung, aber stets kombiniert mit Verantwortung.“ Am Euthanasiegesetz kritisiert er, „dass der Arzt beschließt, nicht der Patient“. An der Kampagne gefällt ihm nicht, dass das Kriterium „selbstbestimmt“ nicht wirklich erfüllt ist. „Wenn jemand zum Hausarzt geht und sagt: ‚Sie müssen es machen‘, ist das keine Selbstbestimmung. Ich verstehe unter einem würdigen Lebensende in eigener Regie, dass ein Mensch klar abwägen kann und einen gut überlegten Beschluss fasst, den er selber und sorgfältig ausführt. Und er sollte über die Medikamente verfügen, die er braucht, um sein Leben zu beenden.“

„Ein Leben beenden ist ein weitreichender Beschluss. Darüber sollte man mit Partnern, Kindern, Freunden sprechen, wenn es sie gibt und wenn es geht, denn sie müssen mit der Entscheidung weiterleben“

TON VINK, PHILOSOPH

Die öffentliche Resonanz auf die Kampagne ist bisher überwiegend positiv. Die Befürworter werden als Babyboomer bezeichnet, die ihr Bedürfnis nach Autonomie konsequent auf den eigenen Tod anwenden. „Hinter dieser Initiative stehen Niederländer, die sehr bewusst im Leben stehen“, urteilt Ton Vink. „Es gibt sehr viele Menschen, die über die Möglichkeit verfügen möchten, selbst ihr Leben zu beenden. Die Gruppe, die sich letztlich dafür entscheiden würde, ist sehr klein“, da ist er sich sicher.

Nach neuesten Zahlen der NVVE würden 51 Prozent der Niederländer gern über eine „Letzte-Wille-Pille“ verfügen. Übrigens hat das Gesetz von 2002 keine Euthanasiewelle ausgelöst. Im Jahr 2003 wurden 1.835 Fälle gemeldet, 2.331 waren es 2008, das sind weniger als 2 Prozent der Todesfälle. Die Hauptgründe für aktive Sterbehilfe sind Krebserkrankungen.

Professor Dr. Erik Borgman von der Universität Tilburg ist dagegen, ein Recht auf Selbsttötung nach einem vollendeten Leben gesetzlich festzulegen. „Dass Menschen durch Vergreisung immer älter werden und nicht unbedingt gesund, sondern auch pflegebedürftig über lange Jahre alt sind, ist die Kehrseite des menschlichen Fortschritts“, erklärt er. Vor allem findet er den Begriff „Autonomie“ verfehlt. „Man lebt nicht nur für sich selbst“, sagt er. „Wir sind miteinander verflochten, ein Leben berührt die Leben von anderen.“

Auch für Wim Haas, katholischer Seelsorger in einem Pflegeheim, ist Sterbehilfe bei vollendetem Leben ein sehr schwieriges Verlangen: „Das Leben ist sinnvoll, weil ich lebe, weil ich bestehe. Auch wenn jemand nicht mehr mobil ist, ist das Leben sinnvoll und der Mensch der Mühe wert. Es ist fast so, als ob wir vor dem Leiden flüchten. Als ob es nicht sein darf, dass Menschen leiden und Schmerzen haben.“