DIE MÜLLERSTRASSE, DIE WINSSTRASSE UND ÜBERHAUPT VOM WESTEND BIS KÖPENICK – BEIM BE.BRA VERLAG SETZT MAN AUF BERLINER ORTE
: Kleinbürger und Künstler, Döner und Bier

VON JÖRG SUNDERMEIER

BERLIN AUF BLÄTTERN

Der be.bra Verlag hat eine neue Reihe konzipiert, „Berliner Orte“. Die Reihe ist breit angelegt: Mit Kurt Tucholsky ist ein Klassiker ausgewählt worden, mit Knut Elstermann eine Lokalgröße und mit den Brauseboys eine Lesebühne. Wie aber nähern sich diese nun in ihren Büchern den Berliner Orten?

Der Tucholsky-Band heißt „Westend bis Köpenick“, und die Herausgeberin Ingrid Feix lässt Tucholsky und seine Pseudonyme Theobald Tiger, Peter Panter und Kaspar Hauser sich austoben. Die Texte sind zunächst heiter und verspielt, werden dann politisch immer bissiger, am Ende wissen wir, hat Tucholsky Berlin verlassen und sich 1935 im Exil getötet. Die Berlinerinnen und Berliner, die er beschreibt, sind mit ihrem Kiez und dem Berlinern noch ganz bei sich, sie sind Kleinbürger und Künstler, spießige Sozialdemokraten und Proleten. Tucholsky sucht weniger Orte auf, als dass er versucht, sein Berlin über die Menschen zu erfassen, die er mal charakterisiert, mal karikiert – über Köpenick oder Westend erfährt man allerdings recht wenig.

Anders bei Knut Elstermann, dessen Band „Meine Winsstraße“ ebenfalls von Menschen handelt. Nun aber sind die Menschen an eine Straße gebunden – die kleine Winsstraße in Prenzlauer Berg, in der Elstermann groß wurde. Während er die Straße porträtiert, kommt er zu sich selbst, entdeckt sogar en passant ein Geheimnis seines verstorbenen Vaters, doch er verlässt sich nicht auf seine Beobachtungen, er geht zu den Menschen, die dort wohnen und wohnten, und beschreibt mithilfe ihrer Geschichten die Geschichte dieser Straße, die Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Er erzählt von den Generationen und verknüpft diese Erzählungen mit eigenen Erinnerungsbildern. Die Fotografin Helga Paris erzählt von ihrem Leben, Konrad Wolf arbeitete hier an seinem letzten großen Filmprojekt, und der kiezbekannte „Trödel-Christian“ bekennt ganz freimütig: „Ick hab aus Kacke Jeld jemacht!“ Zwischen die Geschichten streut Elstermann ganz angelegentlich einige Fakten, zur Entstehungsgeschichte der Umgebung, zur DDR-Zeit oder zu den Zwangsarbeiterlagern, die die Nazis hier um die Ecke betrieben und die dennoch niemand gesehen haben will. Kurz, Elstermann schafft es, auch diejenigen, die nicht in der Nähe der Winsstraße wohnen, für diese Straße zu interessieren, denn sein Blick auf seine Straße lenkt unweigerlich den Blick auf die Straße, in der man selbst wohnt.

Das wiederum ist nicht die Absicht der Brauseboys. Paul Bokowski, Hinark Husen, Robert Rescue, Frank Sorge und Volker Surmann lesen jeden Donnerstag im LaLuz, also im Wedding. Es geht ihnen um „Geschichten aus der Müllerstraße“, nicht um die Geschichte der Straße, daher könnten die Texte auch, tauschte man die Imbiss- und Straßennamen aus, in Tempelhof oder Hellersdorf spielen, denn zum großen Teil drehen sich die Geschichten um Lumpenproleten, die in ihrem Kiez – von staatlicher Fürsorge gegängelt und vom Alkohol nicht befreit – vor sich hin wesen. Bei mancher Geschichte fragt man sich, was eigentlich den Brauseboy, der bei Döner, Bier und B.Z. am Imbisstisch sitzt, von jenen unterscheidet, die er dort beobachtet – ist er nicht selbst einer von denen, über die er sich ein bisschen zu herablassend amüsiert? Richtig komisch sind die Geschichten, in denen die Dichter sich selbst beobachten, etwa wenn sie spätnachts am Imbiss als Berühmtheit erkannt werden, und dann jenes dümmliche Benehmen an den Tag legen, das sie vorher begackert haben. Dann kommt auch der Ort zum Vorschein, der vorher zu sehr ein Klischee war.

■ Kurt Tucholsky: „Westend bis Köpenick“. Knut Elstermann: „Meine Winsstraße“. Brauseboys: Geschichten aus der Müllerstraße. Alle 146 Seiten, alle 9,95 Euro, alle be.bra Verlag, Berlin 2013