Ordnung schaffen

POLNISCHES THEATER Zur Sprache kommen, ins HAU kommen: Barbara Wysocka gastiert mit Peter Handkes „Kaspar“ beim Festival „Polski Express“

Wovon könnte ein Stück erzählen, von dem der Autor behauptet, es zeige nicht, „wie es wirklich ist oder wirklich war mit Kaspar Hauser“? Sondern, wie Peter Handke 1968 zu seinem Stück „Kaspar“ schrieb: „Es zeigt, was möglich ist mit jemandem.“

Bekanntlich macht es sich das Theater auch heute nicht leicht mit dem Erzählen, da ist „Kaspar“ ganz ein Stück der Zeit. Auch in der Inszenierung, mit der die polnische Regisseurin Barbara Wysocka heute Abend im Rahmen des Festivals „Polski Express“ noch einmal im HAU3 zu sehen ist, ist eines klar, sobald man den Saal betritt. Wenn erzählt werden sollte, dann zugleich über die Formen des Erzählens.

Direkt zu Beginn, noch als das Licht an ist und das Publikum sich auf den Stühlen niederlässt, erklärt Marta Szymkiewicz, wie der Zuschauer zum Zuschauer wird, sobald er im Theater sitzt, und das Theater zum Theater wird, sobald der Zuschauer ein Schauspiel betrachtet. Diese Versuchsanordnung, in der Schritt für Schritt, Wort für Wort der Prozess gezeigt wird, mit dem ein Mensch in eine spezifische Logik integriert werden soll, treibt die Regisseurin auf die Spitze. Die Bühne selbst ist ein Ort „under construction“, ein dreistöckiges Baugerüst steht im Hintergrund.

Die 1978 geborene Wysocka gilt als eine der wichtigsten Regisseurinnen der jungen polnischen Theatergeneration. Für die am Gegenwartstheater in Breslau herausgebrachten Inszenierung „Kaspar“ erhielt sie Anfang des Jahres den Theaterpreis der Woiwodschaft Niederschlesien für das beste Stück 2009.

Kaspar (Szymon Czacki) erlebt die Sprache physisch, als Objekt, das ihn im wahrsten und traurigsten Sinne des Wortes behindert und ihn somit zu einem Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft macht. Diese Arbeit mit der Sprache, als sei sie ein materielles Hindernis, ist schließlich auch der eindrucksvollste Moment des Stückes. Die Einsager, die Kaspar zur Sprache bringen sollen, führen auf dem Gerüst eine Choreografie vor, fallen hindurch und werden immer wieder von den Geländern und Etagen aufgehalten und abgestoßen. Das sieht ein wenig so aus wie Affen im Dschungelgehölz, nur nicht so behände und selbstbestimmt, sondern den Regeln des Gerüstes und der Schwerkraft folgend. Oder in der Problematik Kaspars formuliert: den Regeln und der Logik der Sprache unterworfen.

„Sprechfolterung“ könnte man es nennen, sagte Handke über das Stück. Und so kommt Kaspar auch erst dann „zur Besinnung“, als er zu sprechen gelernt hat: „Seit ich sprechen kann, kann ich alles in Ordnung bringen.“ Doch was heißt: in Ordnung bringen? Hier ist Wysockas Inszenierung eine pessimistische Perspektive eingeschrieben. Ordnung heißt, durch die Sprache die gängigen Denk- und Verhaltensweisen zu übernehmen und so wie Kaspar gehorsam den vorgelesenen Regieanweisungen zu folgen, egal ob sie ihn zu unsinnigen Auf- und Abtritten schicken. Doch hat der Mensch eine Alternative? Darauf weiß auch Wysocka keine Antwort. PHILIPP GOLL

■ „Kaspar“ heute um 19.30 im HAU3. „Polski Express“ bis 5. Juni