Nützliche Neutralität

SOTSCHI 2014 Die Funktionäre wünschen sich für das reibungslose olympische Geschäft unpolitische Athleten. Dabei ist Menschenrechtskritik im Sinne der Olympischen Charta

VON LENNART WEHKING

Haben die Akteure bei den Olympischen Spielen in Russland eine politische Verantwortung? Diese Frage ist nur wenige Wochen vor der Eröffnungsfeier in Sotschi von größter Brisanz. Und die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Die Ausrichtung der olympischen Bewegung ist unmissverständlich. Unmissverständlich politisch: „Jede Form von Diskriminierung eines Landes oder einer Person aufgrund von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder aus sonstigen Gründen ist mit der Zugehörigkeit zur olympischen Bewegung unvereinbar.“ So steht es schwarz auf weiß in Artikel sechs der Olympischen Charta.

Die olympische Realität vor den Winterspielen im russischen Sotschi ist eine andere: „Es wird regelrecht Jagd gemacht auf Homosexuelle in Russland. Der staatliche Schutz ist nicht mehr gegeben.“ Vor dem Hintergrund der dramatischen Berichte Axel Hochreins vom deutschen Lesben- und Schwulenverband beim Abend der Sportwissenschaften in Köln klingen die Prinzipien der olympischen Idee wie eine Farce. Das Gesetz gegen „Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen“ hat die Unterdrückung und Verfolgung homosexueller Menschen im olympischen Gastgeberland endgültig staatlich manifestiert. Der olympische Gedanke wird Wochen vor Beginn des teuersten Winterspektakels aller Zeiten ad absurdum geführt.

Wolfgang Schürrmann, Professor für Sportphilosophie an der Sporthochschule in Köln, erklärt: „Durch die Menschenrechtsverletzungen ist die zentrale Grundlage des olympischen Sports betroffen, deshalb kann der Sport hier nicht politisch neutral agieren.“ Das sieht das Internationale Olympische Komitee (IOC) anders. Seit sich die Olympischen Spiele zu einer Gelddruckmaschine auf allerhöchstem Niveau entwickelt haben, wird mit großem Pathos beharrlich die politische Neutralität des Sports ausgerufen. Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) lässt bisher eine klare kritische Position vermissen und begrüßt derweil lieber die Garantie des neuen russischen Sportfans Wladimir Putin, für den Schutz der homosexuellen Aktiven sorgen zu wollen. Und verweist auf Artikel 51 der Olympischen Verfassung, der jede politische Propaganda an den olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen olympischen Bereichen verbietet. Eine Kostprobe der russischen Auslegung des Artikels gab es in diesem Jahr schon bei der Leichtathletik-WM in Moskau: Die in Regenbogenfarben lackierten Fingernägel von Emma Green Tregaro waren Propaganda genug, die schwedische Hochspringerin kassierte eine Rüge vom Weltverband und musste noch im Wettkampf schnellstens umpinseln.

Allerdings wollte DOSB-Präsidiumsmitglied Christan Breuer im Laufe der Kölner Diskussionsrunde mit dem frechen Titel „Sotschi 2014 – Sport und Politik. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen?!“ dann doch noch vorsichtig auf die Möglichkeiten des Sports als „Türöffner für Menschenrechte“ aufmerksam machen. Dafür aber, gibt Schürmann zu bedenken, bedarf es einer kritischen Öffentlichkeit, die von Aktiven, Medien und Funktionären hergestellt werden müsse. „Dann erst muss sich das IOC permanent die Frage gefallen lassen, wie sie als olympische Bewegung mit den Menschenrechtsverletzungen in Russland umgeht.“ Bisher leider ein rein fiktives Szenario. „Wir sollten unsere Sportlerinnen und Sportler auch nicht zu sehr unter Druck setzen, allein die Welt zu verbessern“, zerstört Breuer auch flugs die Hoffnungsfünkchen auf ein gemeinsames politisches Statement des deutschen Teams. Der Aktivensprecher geht davon aus, dass sich die deutschen Wintersportler als „mündige Athleten“ äußern werden – innerhalb des vorgegebenen Rahmens. Wie der aussehen könnte, zeigt die zuletzt in die Kritik geratene Athletenvereinbarung, ohne deren Zustimmung eine Teilnahme in Sotschi ausgeschlossen ist. In dieser verpflichten sich die Athletinnen und Athleten, den Vorgaben des Verbandes bedingungslos Folge zu leisten und auf ihr Grundrecht zu verzichten, in existenziellen Fragen ein deutsches Gericht kontaktieren zu können.

Wie es scheint, bleiben die Olympischen Spiele auch im russischen Sotschi nur ein Türöffner für Absatzmärkte. Trotz Artikel sechs der Olympischen Charta.