: Als würde die Musik sie spielen
SPIRITUELLE MUSIK Erdmagie und Bluesrituale: Nach Jahren abstrakten Experimentierens spürt die Berliner Band Heaven And den Drang nach Melodie und Rhythmus. Sogar Gefühl und Slide-Gitarren sind jetzt erlaubt
VON TIM CASPAR BOEHME
Improv-Musiker sind meist Asketen. So sehr, dass sie die flüchtige Sechssilbigkeit des Wortes „Improvisation“ für barocken Prunk zu halten scheinen und lieber kurz „Improv“ sagen. Lange Jahre operierte man in diesem Genre am Rande des Hörbaren. Doch neuerdings genügt manchen Klangpuristen die karge Kost nicht mehr. Deshalb sieht man szenebekannte Vertreter dieser Richtung, namentlich das Berliner Quartett Heaven And, in ihrem zweiten Album „Bye and Bye I’m Going to See the King“ sich auf Bluesmelodien und andere elementare Gesten zu besinnen, freilich ohne ihren experimentellen Bildungsauftrag zu vergessen.
Heaven And sind eine Improv-Supergroup. Was als Bezeichnung etwas irreführend ist, denn die Improv-Szene spricht seit je ein begrenztes Publikum an, während eine Supergroup in der Regel einen öffentlichkeitswirksamen Star-Status erfordert. Beide Dinge schließen sich also aus. Allerdings handelt es sich bei Heaven And um international vernetzte Größen wie den Gitarristen Martin Siewert, den Bassisten Zeitblom und die australischen Schlagzeuger Tony Buck und Steve Heather.
Untereinander hatten fast alle von ihnen schon in der ein oder anderen Konstellation gespielt, als man vor drei Jahren für ein WDR-Hörspiel über den britischen Okkultisten Aleister Crowley zusammentraf, bei dem Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten die „Popikone“ Crowley gab. „Ich hatte einfach die Idee, zum Thema Aleister Crowley meine Lieblingsbesetzung zusammenzubringen. Und ich mag Bands mit zwei Schlagzeugern“, so Zeitblom zur Zusammensetzung des Projekts. Aus den Improvisationen für das Radiostück entstand 2008 ein erstes Album mit Alexander Hacke, „Sweeter as the Years Go By“. Beim Nachfolger spielt Hacke nicht mit, dafür diverse Gastmusiker.
Wie eine typische Improv-Band klingen Heaven And wirklich nicht. Da ist zunächst die massive „Perkussionsfront“ der beiden Australier. Ihr Mit- bzw. Gegeneinander funktioniert in seiner wuchernden Komplexität so gut, dass man meinen könnte, die beiden Herren beschäftigten sich seit Ewigkeiten mit dem gemeinsamen Herbeitrommeln rhythmischer Undurchdringlichkeiten, zusammengebunden von Zeitbloms bohrendem Bass.
Noch stärker überrascht Siewerts Einsatz an der Gitarre. Ganz entspannt spielt der frühere Klangforscher seine jaulenden Blueslinien, als sei er soeben vor der Ölpest aus dem Mississippidelta geflohen: „Ich habe jahrelang sehr viel im Reduktions-Impro-Bereich gemacht. Irgendwann hat sich das Interesse an der Abstraktion von eh schon abstrahierten Klängen für mich erschöpft.“
Das neue Interesse an direkteren, emotionaleren Mitteln und das Spiel mit Referenzen ist jedem Takt des neuen Albums „Bye and Bye I’m Going to See the King“ anzuhören. „Wir arbeiten ganz bewusst mit Querverweisen, indem wir zum Beispiel die Sechzigerjahre-New-Orleans-Rhythmik von Dr. John reinbringen“, sagt Zeitblom. Im Albumtitel zitieren sie die fast vergessene Blueslegende Blind Willie Johnson. Die Kombination des Bandnamens mit dem letzten Stück schließlich ergibt „Heaven and Earth Magic“, den Titel eines Experimentalfilms des exzentrischen Archivars Harry Smith. Dessen klassische „Anthology of American Folk Music“ ist für die Musik von Heaven And ebenso Stichwortgeber wie eine Kollektion mit spiritueller Musik des frühen 20. Jahrhunderts, „Goodbye Babylon“, die insbesondere Siewert beeindruckte: „Ich kann für mich als Hörer nur beobachten, dass die Musik, die mich am meisten packt, spirituell motiviert war. Dass gewisse Leute eine Musik spielen, als würde die Musik sie spielen.“
Eine ähnliche transzendentale Energie beansprucht Siewert auch für die Musik von Heaven And – ohne es religiös zu meinen. Besonders live kann man diese archaisch anmutende Kraft ihrer Improvisationen deutlich spüren, wie kürzlich bei der Vorstellung ihres Albums während des MaerzMusik-Festivals. Auch wenn ihre Bühnenshow eher minimalistisch zu nennen ist: Wie Asketen wirkten sie dabei nicht.
■ Heaven And: „Bye and Bye I’m Going to See the King“ (Staubgold)
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