Das blaue Ölwunder

Kulinarische Kenner schätzen seinen Geschmack. Zudem wird Leinöl eine lange Reihe wundersamer Wirkungen zugeschrieben. Aufgrund seiner geringen Haltbarkeit fristet es jedoch ein Nischendasein

VON LARS KLAASSEN

Um das gleich am Anfang klarzustellen: Hier geht es um kulinarischen Genuss. Um guten Geschmack. Bodenbeläge und Farben, Korrosionsschutz und Holzkonservierung haben in diesem Text nichts zu suchen. Hausmittel gegen Husten, Magenbeschwerden und Verbrennungen sollten ebenfalls außen vor bleiben. Substanzen, die das Sexualleben verbessern, intelligenter und auch noch glücklich machen sollen, gehören eigentlich auch nicht hier hin. Eigentlich. Wäre da nicht „das blaue Ernährungswunder“. Die Pflanze, der wir dieses blaue Wunder zu verdanken haben, ist der Flachs. Er ist auch als Lein bekannt und wird wissenschaftlich als Linum usitatissimum („äußerst nützlicher Lein“) bezeichnet. Der Name ist berechtigt. Für all das, was oben aufgeführt ist – und noch vieles mehr –, lässt sich dieses Gewächs verwenden. Genauer: das aus ihr gewonnene Leinöl. Weil es abgesehen von all seinen anderen Vorteilen nicht nur gut schmeckt, sondern auch noch gut tut, wird Leinöl hier gewürdigt. Baubiologische und medizinische Aspekte sind reine Randerscheinungen und nicht beabsichtigt.

Trotz seiner vielfältigen famosen Eigenschaften ist Leinöl nicht nur in der Küche zu einer Randerscheinung geworden. Laut Hans-Ulrich Grimm, der dem „blauen Ernährungswunder“ soeben ein Buch gewidmet hat (siehe Kasten), ist die Pflanze ein Opfer der Industrialisierung geworden. Jahrtausende lieferte Lein in Form von Fasern und Öl Grundstoffe für eine breite Palette zivilisatorischer Produkte. Baumwolle und Kunststoffe auf Mineralölbasis verdrängten den nachwachsenden Rohstoff seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Auch das Lebensmittel Leinöl erschien nicht mehr zeitgemäß. Das Problem: Es hat nur eine kurze Lagerzeit und kann schnell ranzig werden. Für Massenproduktion, lange Lieferwege und mehrwöchige Lagerung ist es nicht geeignet.

Im Spreewald hat sich die Tradition der Leinöl-Herstellung unter anderem deshalb erhalten, weil Lein auf den kargen Böden so gut wächst. Aus dem einst aus praktischen Gründen weit verbreiteten Nahrungsmittel ist inzwischen eine Lausitzer Spezialität geworden. In der Holländerwindmühle in Straupitz etwa wird das Leinöl noch wie vor hundert Jahren hergestellt: Über einem Holzfeuer werden die Samen schonend angeröstet und dann warm gepresst. Dadurch wird das Leinöl milder und bekommt einen nussigen Geschmack. Zurück bleibt der so genannte Leinkuchen. Der ist kein Abfall: Sein hoher Anteil an Restöl und Vitamin E macht ihn zu einem gesunden Lebensmittel. Daraus lässt sich schmackhaftes Brot backen.

Auf Leinöl setzt man unter anderem auch im Spreewälder Wellnesshotel „Zur Bleiche“ in Burg. Der Name erinnert an die Herstellung des Linnens, die Leinentücher wurden an der Sonne gebleicht. Zum Schönheitsangebot des Hotels gehören Leinölbäder und -gesichtspackungen. In der Küche verwendet Chefkoch Oliver Heilmeyer Leinöl für Gerichte wie den Spreewälder Kräuterquark. Auch ein Leinöl-Dessert hat der Küchenchef kreiert. Generell gilt: Man sollte das Leinöl nicht sehr stark erhitzen. Deshalb verwendet Heilmeyer es gerne bei kalten Vorspeisen. Sein Tipp: geräucherte Perlhuhnbrust mit zweierlei Chicorée und einer Leinöl-Linsen-Vinaigrette (siehe Kasten).

Wie das Öl schmeckt, hängt ganz davon ab, wie es hergestellt wird. Kalt gepresstes Öl ist im Vergleich zu mehrfach raffiniertem trüber, aber vollmundiger, weil es noch mehr Inhaltsstoffe hat. Bei diesem Verfahren wird der Leinsamen im schonenden Kaltpressverfahren mit Hilfe einer Schneckenwalze bei geringem Druck durch den Presszylinder gedrückt. Verschiedene Düsen am Ende des Auslaufs wie auch eine Veränderung der Pressgeschwindigkeit haben Einfluss auf den Ölertrag. Bei der Kaltpressung werden Öltemperaturen von maximal 40 Grad Celsius erreicht. Erfolgt die Pressung bei Zimmertemperatur, lösen sich nur die Öle mit bestem Aroma und bester Qualität. Bei höheren Temperaturen lösen sich auch andere Pflanzenbestandteile, welche die Qualität des Öls vermindern. Deshalb gehören kaltgepresste Pflanzenöle zu den wertvollsten und teuersten Ölen.

Kalt gepresst bleiben dem Speiseöl nicht nur seine charakteristischen Eigenschaften wie der würzige Geschmack, sondern auch sein sehr hoher Gehalt an essentiellen Fettsäuren erhalten. Diese bestehen zu 65 Prozent aus Omega-3-Fettsäure, auch als Linolensäure bekannt. Sie kann im Leinöl einen Anteil von bis zu 50 Prozent haben. Das ist deutlich mehr, als in jedem anderen Speiseöl. Zum Vergleich: Olivenöl enthält davon etwa 1 Prozent, Sonnenblumenöl rund 0,5 Prozent. Die Omega-3-Fettsäure ist eben jene Substanz, der all die erwähnten Wunderdinge zugeschrieben werden: Es wirkt cholesterinsenkend, sorgt für besseren Sex und eine höhere Intelligenz … Wem das noch nicht genug ist: Leinöl ist außerdem reich an Vitamin E und Lecithin.

Doch die Linolensäure hat auch Schattenseiten: Ihr hoher Gehalt lässt den Geschmack des Leinös rasch unangenehm scharf werden. Darum sollte man nur kleine Portionen des gelbgrünen Öls kaufen und es möglichst rasch verbrauchen. Leinöl kann schnell ranzig werden. Es sollte deshalb im Kühlschrank aufbewahrt werden. Ein wirkliches Problem kann das aber wohl kaum werden: Seine Wunderwirkungen und sein guter Geschmack sorgen dafür, dass Leinöl in der Küche ohnehin kaum alt wird.