Erster Schritt zur Aufklärung

MISSBRAUCH Der Trägerverein der Odenwaldschule wählte am Wochenende einen neuen Vorstand. Expertenbericht spricht von einem schwierigen Neuanfang für die Reformschule

Der Trägerverein der Odenwaldschule hat einen Neuanfang beschlossen. Dazu gehört:

■ Verein und Vorstand der Schule wurden komplett erneuert. Im Verein gibt es jetzt 14 neue Mitglieder, meist ehemalige Schüler. Weitere 15 Neuaufnahmen sind bereits beschlossen. An der Spitze des Vorstands steht der Notar Michael Frenzel. Außerdem gehören dem Vorstand der Journalist Johannes von Dohnanyi und Adrian Koerfer an, ein Missbrauchsbetroffener.

■ Der Verein will die Satzung ändern: Schulleiter und Geschäftsführer sollen sich nicht mehr selbst kontrollieren, sie gehören dem Vorstand nicht mehr an.

■ Es soll einen Anerkennungsfonds für die Opfer geben sowie eine pädagogische Neuausrichtung, „die eine reformpädagogische sein soll.“ Dafür gibt es einen international besetzten wissenschaftlichen Beirat. Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) soll eine Reformkommission leiten.

AUS HEPPENHEIM CHRISTIAN FÜLLER

Die Odenwaldschule hat einen Schritt zur Aufklärung und zu ihrer Neuorientierung getan. Der Trägerverein der Schule wählte am Wochenende einen neuen Vorstand und änderte die Satzung (siehe Kasten). Der Bericht der unabhängigen Aufklärerinnen, der Anwältin Claudia Burgsmüller und der Landgerichtspräsidentin a. D. Brigitte Tillmann zeigt, wie schmerzlich der Weg für die einstige reformpädagogische Vorzeigeschule wird.

Die Odenwaldschule hat nicht verhindern können, dass drei Intensivtäter ihr pädagogisches Prinzip über Jahre hinweg pervertiert haben. Dazu gehörten die Lehrer Wolfgang H., Jürgen K. und der bundesweit bekannte Schulleiter und Reformpädagoge Gerold Becker. Von Ende der 60er- bis Anfang der 90er-Jahre missbrauchten diese Lehrer regelmäßig Schüler. Die Juristinnen gehen von rund 50 Fällen sexuellen Missbrauchs aus.

Die ehemalige Richterin Tillmann sagte, es könne sein, „dass dies nur die Spitze eines Eisbergs ist“. Die Schule hat rund 2.800 Schreiben an ehemalige Schüler verschickt, zuletzt Ende April. Es dauere manchmal Monate, ehe die Betroffenen Vertrauen schöpften und sich offenbarten.

„Bitte nennen Sie mich nicht Opfer“, sagte das neue Vorstandsmitglied Adrian Koerfer: „Denn da hängt noch die Beschmutzung dran. Ich fühle mich als Betroffener.“ Koerfer ist selbst von zwei Lehrern an der Odenwaldschule missbraucht worden. „Wir kamen ohne Sexualaufklärung an die Odenwaldschule. Dort trafen wir als 13-Jährige auf eine Sexualität des Missbrauchs, von der wir dachten, das sei Sex.“

Die Odenwaldschule war vor hundert Jahren als reformpädagogisches Landerziehungsheim gegründet worden. Ihre obersten Prinzipien heißen „Werde der du bist“ und Respekt vor der Integrität des Kindes. Die Haupttäter haben diese Prinzipien offenbar pervertiert und ausgenutzt. „Erleichtert wurden die Übergriffe durch einen herrschenden Kodex“, sagte die Wiesbadener Anwältin Claudia Burgsmüller, „der möglicherweise von allen Erwachsenen geteilt wurde.“ Der Kodex habe gelautet, dass es sexuelle Zugriffsrechte für LehrerInnen auf SchülerInnen gibt.

Besonders bitter für die Odenwaldschule ist, dass es ihr in dieser Zeit nicht gelang, die Hilferufe der Schüler wahrzunehmen. Diese Schüler wurden nicht ernstgenommen. „Innerhalb der Schule wurden sie sanktioniert, im Extremfall mit dem Schulverweis, der natürlich anders begründet wurde“, heißt es im Bericht.

An der Internatsschule sind alle Sicherungen für die Kinder durchgebrannt. So gab es nicht die Möglichkeit, die Rolle der Familienoberhäupter (Lehrer) in den Internatsfamilien zu kontrollieren, da es keine gesonderte Heimleitung gab. Gerold Becker war einer der Haupttäter und vereinte zugleich alle Leitungsfunktionen der Schule. Er war im Vorstand der Schule sogar sein eigener Aufsichtsrat.

Bei einer Reihe von Lehrerinnen haben die monatelangen Berichte inzwischen traumatische Erfahrungen bewirkt. Diese Lehrer fragen sich, warum sie nicht gesehen haben, was ihre Kollegen taten. Ein Lehrer aus dieser Zeit sagte der taz: „Ich muss mich hinterfragen, wieso ich nicht das Gespür hatte zu merken, was geschah.“ Diese Lehrer verneinen allerdings vehement einen für alle geltenden Kodex, nach dem die LehrerInnen Zugriffsrechte auf ihre Schüler hatten. „Das ist ausgeschlossen, das wäre mir nie in den Sinn gekommen“, sagte ein Lehrer der taz.

Einziger Lichtblick bei der Aufarbeitung: Beschuldigt wird niemand, der aktuell noch tätig ist. „Die Odenwaldschule dürfte im Moment die sicherste Schule der Welt sein“, sagte die Richterin Brigitte Tillmann.