Das Ziel: Abschaffung der Visapflicht für russische Bürger

EU-BÜROKRATIE Warum 2009 allein das finnische Generalkonsulat von St. Petersburg 550.000 Schengen-Visa ausgestellt hat

Heute ist das finnische Generalkonsulat in St. Petersburg die größte Vertretung Finnlands im Ausland

ST. PETERSBURG taz | Auch wenn Russland sich noch etwas zögerlich auf eine Visafreiheit mit seinen europäischen Nachbarn zubewegt, ist das Ziel deutlich: die Abschaffung der Visapflicht für russische Bürger, die in die EU reisen wollen. Beleg dafür sind die vielen gemeinsamen Schritte von EU und Russland in dieser Richtung.

Erste Anzeichen einer Lockerung der Visapflicht waren bereits 2006 erkennbar. Kulturschaffenden, Journalisten und weiteren Personengruppen wurde in einer zwischen EU und Russland getroffenen Vereinbarung die Einreise in die Schengen-Staaten erleichtert. Nun musste man für die Erteilung des Visums nur noch nachweisen, dass man zu dem genannten Personenkreis gehörte und eine Gebühr von 35 Euro bezahlen.

Doch alle anderen, und das sind mehr als hundert Millionen Menschen, müssen nach wie vor in den Konsulaten zahlreiche bürokratische Hürden überwinden, einen Fragebogen ausfüllen, eine Krankenversicherung abschließen, eine Einladung aus dem gastgebenden Land vorlegen und die Buchungsbestätigung eines Hotels vorweisen, bevor sie dann endlich Paris, Berlin, Rom oder eine andere europäische Stadt erblicken können. Noch in allerjüngster Zeit verlangten einige diplomatische Vertretungen eine Einkommensbescheinigung oder ein Bankdokument für die Visaerteilung.

Wesentlich einfacher sind die Bedingungen für die Ausstellung eines Schengen-Visums für die Bewohner grenznaher Gebiete. Ein großer Teil der Bevölkerung von Städten im russischen Nordwesten wie St. Petersburg, Pskow, Murmansk, Kaliningrad hat ein für sechs oder zwölf Monate befristetes Mehrfachvisum. Allein in St. Petersburg, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Estland und Finnland befindet, werden jährlich hunderttausende von Mehrfachvisen für die Schengen-Staaten ausgestellt, 2009 hatte allein das finnische Generalkonsulat von St. Petersburg 550.000 Schengen-Visa ausgestellt. Doch wer im finnischen Generalkonsulat sein Schengen-Visum beantragt, tut dies in den seltensten Fällen, um anschließend nur nach Finnland zu fahren. Dabei sind Finnland und die anderen Schengen-Staaten natürlich daran interessiert, dass die Besucher ihr Geld in dem ausstellenden Staat ausgeben. Da dies aber häufig nicht so ist, haben sich einige diplomatische Vertretungen Maßnahmen einfallen lassen. Wer sich sein Visum beispielsweise von Finnland oder einem anderen Konsulat hat ausstellen lassen, mit diesem dann jedoch andere europäische Staaten besucht, muss damit rechnen, dass er vom Konsulat des ausstellenden Landes mündlich oder schriftlich über diese Verletzung der Visabestimmungen in Kenntnis gesetzt wird. In besonders schweren Fällen wird da auch schon mal ein befristetes Einreiseverbot für die Schengen-Staaten, eine „Quarantäne“, wie die Diplomaten zu sagen pflegen, verhängt.

Bedingt durch seine liberale Visaausstellung in den grenznahen Regionen musste Finnland vor ein paar Jahren sein Personal im finnischen Generalkonsulat in St. Petersburg deutlich aufstocken. Heute ist das finnische Generalkonsulat in St. Petersburg mit über 140 Mitarbeitern die größte diplomatische Vertretung Finnlands im Ausland. Und so ist es auch kein Zufall, dass die meisten russischen Besucher der Schengen-Staaten in diese mit einem finnischen Visum einreisen. Um in dessen Besitz zu kommen, braucht man eigentlich nur Geduld, um fünf Stunden in der langen Warteschlange vor dem Generalkonsulat in St. Petersburg auszuharren.

VALERI NETCHAJ

Aus dem Russischen: B. Clasen