Glitter-Fest im Schlamm

Vom Grillfest zum Großfestival. Bereits zum zehnten Mal fand in Beverungen das „Orange Blossom Special“ statt. Die kleine Gemeinde in Ostwestfalen erhöht so vier Tage lang ihre Einwohnerzahl

Der Dauerregen ist legendär: Gummistiefel waren in der Stadt ausverkauft

AUS BEVERUNGENIMKE STAATS

Für kurze Zeit hört der Regen auf. „Dafür ist die Musik wieder da“, murmelt der ältere Herr auf seiner Sitzbank. Um ihn herum strömen Menschen in Gummistiefeln und Outdoorjacken. Alle tragen ein Bändchen ums Handgelenk. Der rüstige Spaziergänger liegt richtig: Zum zehnten Mal findet in Beverungen im Kreis Höxter das Musikfestival des Platten-Labels Glitterhouse statt – das Orange Blossom Special. Der Name erinnert an einen Song von Johnny Cash, eigentlich ein amerikanisches Getränk – aber auch ein Synonym für den Frühling. Obwohl diese Jahreszeit wohl eher auf die amerikanischen Südstaaten zutrifft.

Wenn Ende Mai „die Musik wieder da ist“, steigt die Einwohnerzahl von Beverungen um rund 17 Prozent, die entsprechen den 1.450 blitzartig verkauften Eintrittskarten. Für die handgemachte Musik, die familiäre Stimmung und das Festival-Camping-Feeling kommen Fans mit ihren Familien aus ganz Deutschland an die Weser. Meist dem oft scheußlichen Wetter zum Trotz. Der Dauerregen zum Festival ist schon legendär. So waren am Wochenende Gummistiefel in der Stadt ausverkauft.

Seit den Anfängen 1996 als kleines Grillfest mit Livemusik im Garten der Plattenfirma-Villa, ist es inzwischen zu einem mehrtägigen Festival mit großen und kleinen internationalen Bands gewachsen. Zum zehnjährigen Jubiläum sind es sogar 25 Kapellen, darunter „Broken Social Scene“, „The Great Crusades“, „Washington“ oder „Seachange“. Die kommen aus den USA und Kanada, viele aus Skandinavien und natürlich Deutschland. Wie eh und je findet alles im Garten hinterm Haus statt, dort stehen die Bühne und die Snack-Buden, CD-Verkaufsstände und eine Sandkiste für die Kleinen.

Alle verbindet das Interesse für die speziellen Musikrichtungen, die Glitterhouse vertritt: Alternative Country, Roots-Rock, Bluegrass und Folk. Besonders junge Talente aus Skandinavien und den USA machen Musik, die Geschichten erzählen und ein Gefühl von Wahrheit vermitteln kann. Zu den ganz alten Glitterhouse-Hasen gehören seit 18 Jahren die Walkabouts, die ursprünglich – wie Kurt Cobain – aus Seattle stammen. Sie trafen sich in diesem Jahr exklusiv für das Jubiläums-Konzert wieder in Ostwestfalen. Da sie inwischen über die Welt verteilt leben, konnten sie nicht mal proben. Dennoch meisterten sie den Auftritt mit Bravour. Zum Inventar gehört auch Robert Fisher, der Prediger der Willard Grand Conspiracy, dessen düstere Geschichten schon oft durch den Garten schallten. Auch in diesem Jahr erzeugte er trotz endlosem Regen Begeisterung.

Immer wieder schaffen es die Festival-Macher, auch junge einheimische Gruppen aufzuspüren, die es krachen lassen. Von den wild rockenden und posenden Jungs namens „Boozed“ aus Bramsche, die am ersten Abend einheizten, sprachen alle noch nach vier Tagen. Am zweiten Tag hypnotisierten die dänischen „Joycehotel“ das Publikum mit massiv gerockten Soundwänden, die sich in sentimentalem Pianospiel auflösen. Dennoch düster, traurig und herzmitreißend.

Die Witterung blieb die ganze Zeit stimmungsunterstützend nass. Das brachte den enthemmten Sänger der britischen Gruppe „Goldrush“ zu allerlei ambivalenten Witzen über hartgesottene Deutsche und einem skandierten Wetterverbesserungs-versuch. Doch weder die einen noch das andere ließen sich aber in die Suppe spucken: Gute Laune und der Regen blieben.

Einen besonderen Kultstatus haben die zwei Label-Chefs Reinhard Holstein und Rembert Stiewe. Als Moderatoren liefern sie sich seit Jahren einen Witze-und Sprüche-Wettstreit. In diesem Jahr durfte es noch ein bisschen mehr sein, verkleidet als Fußbälle tanzten sie auf der Bühne zur Glitter-Hauskapelle K1. Holsteins unumstößliche Lebensweisheiten für dieses Jahr lauteten: 1. Ohne Moos nichts los. 2. Angst essen Seele auf. 3. Regen macht die Birne weich. Die im Regen stimmen zu und blieben geschmeidig. Tapfer versammelten sich vier Tage lang entspannte Menschen in blauen Tüten, den Regencapes, auf der schlammigen Weide und hatten nichts zu klagen. Wie kann es sein, dass gestandene Bürger mit ihren mitgebrachten Sprößlingen frieren, in klammen Zelten nächtigen, im Matsch versinken und trotzdem glücklich vor der Bühne springen? Vor drei Jahren stand „Music ist the answer“, an der Rückwand der Bühne. „It`s your universe“ heißt es jetzt im zehnten Glitter-Jahr.

Orange Blossom Special im TV6. und 7. August 2006WDR Rockpalast