reise zum mittelpunkt der erde von RALF SOTSCHECK
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Wenn jetzt das Licht ausgeht, sind wir verratzt. Wir fahren mit einer winzigen Bergarbeiterbahn drei Kilometer in einen Berg bei Pöhla im Erzgebirge, wo wir in einer Zinnkammer auftreten sollen. Wir, die „Außeririschen“, zwei Musiker und ich, kommen uns vor wie die Unterirdischen. Nach 20 Minuten hält die Bahn an, aber am Ziel sind wir noch lange nicht. Es geht weiter zu Fuß. Zur Zinnkammer, wo die Bühne ist, führt ein langer, steil ansteigender Stollen.

Am Ende der Kammer, neben einem kleinen See, hat man uns ein Zelt als Umkleidekabine aufgestellt. Bis zum ersten Auftritt ist es noch eine Stunde. Ob wir Kaffee oder Tee trinken oder ein paar Würstchen essen wollen, fragt die Kulturamtsleiterin. Lieber nicht. Die Toiletten befinden sich an der Endstation der Bahn, und die ist weit weg.

Irgendwann setzt sich die Blase aber durch. Die Toilette ist recht ungewöhnlich: Es ist eine große, graue Plastikkiste mit Loch, die auf einen Schienenwagen montiert ist, damit man sie mit der Lokomotive aus dem Berg ziehen kann, wenn sie voll ist. Um auf die Toilettenkiste zu gelangen, muss man drei Stufen hochsteigen und sitzt wie auf einem Thron. Als Sichtblende dient ein schwarzer Plastikvorhang. Ich singe lauthals, damit die nächsten Toilettenbenutzer wissen, dass besetzt ist.

Dann kommt unser Auftritt. Ich will mein weißes Hemd anziehen, aber es ist klatschnass. Im Bergwerk herrscht eine Luftfeuchtigkeit von 95 Prozent. Ich bleibe also in den alten Klamotten, was bei dem schummrigen Licht nicht weiter auffällt. In der Pause zwischen den beiden Auftritten müssen wir unten bleiben, weil es lange dauert, die 200 Zuschauer mit der kleinen Bahn hinaus- und die nächsten 200 Gäste hineinzufahren.

Statt dessen macht Günther, ein pensionierter Bergarbeiter, mit uns eine Bergwerksführung. Die Stollen sind insgesamt 200 Kilometer lang. Wir beschränken uns auf einen Bruchteil davon. Früher wurde hier Uran abgebaut. Wir müssen schmale Leitern hoch klettern, bis wir zu einem Uranflöz kommen. Günther hält einen Geigerzähler daran, der sofort lauthals zu knirpseln anfängt. „Das ist die Musik, die die Russen hören wollten“, meint Günther. Die russischen Soldaten standen früher mit Maschinenpistolen hinter den Arbeitern, damit die das Uran nicht in den Westen verschieben konnten.

Nach fast zwölf Stunden unter Tage dürfen wir wieder nach draußen. Es ist längst dunkel, und in der Vugelbeerschänk ist die Küche bereits geschlossen. Aber die Besitzerin Christine Leicht ist mit einem Ungarn verheiratet, und deshalb gibt es immer Gulaschsuppe. Gleichzeitig erklärt uns Christine, dass in einem Wirtshaus, das Vugelbeerschänk heißt, notwendigerweise Vogelbeerlikör getrunken werden muss. Viel Vogelbeerlikör.

Später kommt eine ältere Dame, die bei unserem Auftritt im Bergwerk war. Sie hätte gern eines meiner Bücher. Das müsse sie sich im Buchladen besorgen, sage ich. „Und wonach frage ich?“ Nach dem „gläsernen Trinker“, Edition Tiamat, antworte ich. „Das mache ich“, meint sie. „Vielen Dank und weiterhin alles Gute, Herr Tiamat.“

Sie wird sich wundern, wie viele Bücher dieser Herr Tiamat geschrieben hat.