ich krieg hartz IV, kauf mir ein bier von ULRIKE STÖHRING
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Der Abend beginnt in Berlin-Friedenau, einem Stadtbezirk in bester Ordnung: „Wir vergolden wieder“, verkündet Traditionsjuwelier Müller, und das ist nicht die einzige gute Nachricht. „Ohne Harndrang lebt sich’s leichter“, verspricht das Schild im Apothekenfenster an der S-Bahn. Ein paar Straßen weiter protzt ein Geschäft mit belgischen Eichenmöbeln, die sich ganz prima zum Barrikadenbau vor Arbeitsagenturen eignen würden: Kein Panzerwagen könnte ihnen auch nur einen Kratzer zufügen. Dem Friedenauer jedoch scheint Krawall eher fern zu liegen, die Vorgärten sehen jedenfalls nach Vollbeschäftigung aus.

Unsere zusammengewürfelte Runde hat ein Bildungswochenende in die Gegend verschlagen. Erschöpft von vielen Stunden in Seminarluft hängen wir nun im Gestühl des Gartenlokals. Es gibt Schwarzbier, und Lola verträgt keinen Alkohol. „Wir angeln uns jetzt einen Immobilienmakler!“, kräht sie fröhlich und wirft kühne Blicke durchs Lokal. Schon naht ein Klops in Polohemd, stellt sich als „der Marc“ vor und möchte dringend eine Runde schmeißen. Zur Strafe lassen wir Lola bei ihm zurück.

Die S-Bahn pendelt uns in die üblicheren Ausgehbezirke. Auch das Bettleraufkommen ist wieder normal. „Ich krieg Hartz IV, kauf mir ein Bier“, reimt ein bereits sehr glasig blickender Herr und droht mir auf den Schoß zu fallen. Flink rücke ich näher zu Alex, der diesen kleinen Fluchtreflex prompt missversteht. Er kommt auf seine mäßig erschütternde Scheidungsgeschichte zu sprechen. Im Umsteigechaos am U-Bahnhof Gesundbrunnen hängen wir den Ehekrüppel ab. Es bleiben Vera und ich.

Vera ist eine seit drei Jahren arbeitslose Sinologin, ich stehe mit viel Glück seit über 15 Jahren in Lohn und Brot. Am Prater empfängt uns eine Mischung aus „Unsere Kinder schlafen nie vor Mitternacht“-Familien und „Die Projektfinanzierung ist noch nicht ganz klar“-Hirschen. Rehäugig in Tagebücher schreibende Mädchen komplettieren das Ensemble. Wir bleiben dennoch. Hauptthema des Abends: Amore in Zeiten der Arbeitslosigkeit.

Was für ein arbeitsmarktpolitischer Geniestreich: Wer das Bett teilt, soll auch sein Geld teilen, ob verheiratet oder nicht. Wir rätseln, ab der wievielten Nacht es nun angezeigt sei, dem oder der neuen Liebsten ganz sexy die Kontoauszüge abzuverlangen, am besten noch mit dem zarten Hinweis auf drohende Kontrollbesuche. Wird erst ab Nacht Nummer zwei oder schon bei One-Night-Stands kassiert? Sind die Berechnungsgrundlagen an die Tarife professioneller Etablissements angelehnt? Ich muss das wissen, falls ich mich heute Abend in einen Arbeitslosen verliebe und nicht auf der Stelle bereit bin, für seine Krankenversicherung aufzukommen.

Und was soll die schöne Vera machen, die seit 20 Minuten von einem bekannten Schauspieler angeplinkert wird, der aber ihr dunkles Geheimnis noch nicht ahnt – dass sie nämlich von ihrem Arbeitslosengeld zwei halbwüchsige, labelklamottenfixierte Blagen durchfüttern muss? Wir verschieben das Thema auf später, amüsieren uns einstweilen ohne Männer und reimen, lyrisch recht angeschlagen, auf dem Heimweg: „Früher hieß es: O Süßer, ich will ein Kind von dir! / Heute sagt man: O Baby, Vorsicht!, ich bin auf Hartz vier.“