Rentiere müssen Cola-Dosen weichen

In Island wird ein riesiger Damm fertig: Der Strom soll eine Aluminiumhütte versorgen. Die letzte Wildnis verschwindet

BERLIN taz ■ Eines der größten europäischen Wildnisgebiete wird demnächst zerstört: Der knapp 200 Meter hohe Kárahnjúkar-Staudamm in Island ist fertig. Ab dem 1. September soll der Wasserspiegel steigen. 70 Wasserfälle verschwinden genauso wie die Weidegründe der letzten wilden Rentiere. Etwa 3 Prozent Islands werden von einer wilden Natur- in eine Industrielandschaft umgewandelt.

Für die Stromversorgung der isländischen Bevölkerung ist das Kraftwerk überflüssig. Die zusätzliche Energie wird fast ausschließlich für ein neues Aluminiumwerk des US-Konzerns Alcoa benötigt. „Die Entscheidungen wurden ohne Anhörung der Bevölkerung von wenigen Politikern getroffen. In keinem anderen westeuropäischen Land wäre so etwas möglich“, beklagt die Bürgerinitiative vor Ort. Risiken für Mensch und Umwelt seien bei der überstürzten Genehmigung kaum berücksichtigt worden, kritisiert der isländische Fotograf und Naturwissenschaftler Gudmundur Pall Olafsson: „Risse im angrenzenden Gestein zeigen, dass der geologische Untergrund für den Damm völlig ungeeignet ist.“

Der WWF bestätigt die Kritik: Das Kárahnjúkar-Projekt steht auf der schwarzen Liste der Staudämme, die nicht die ökologischen und sozialen Standards der Weltkommission für Staudämme (WCD) einhalten. Finanziert wurde der Bau durch einen 400-Millionen-Kredit eines internationalen Bankenkonsortiums – an dem auch die Deutsche Bank, die Deutsche Postbank und zwei staatliche deutsche Landesbanken beteiligt waren.

Für eine Aluminium-Industrie gibt es auf Island weder Rohstoffe noch Absatzmärkte. Der weltweit führenden Aluminium-Hersteller Alcoa investiert dennoch, um die billige Energie aus der Wasserkraft zu nutzen. Denn beim Aluminium macht der Strom rund 40 Prozent der Kosten aus. Wegen der hohen Energiepreise mussten in den USA und Europa zahlreiche Werke schließen. In Island hingegen erlebt die Branche einen Aufschwung. Zusätzlich zu der fast fertigen Aluminiumschmelze an der Ostküste verhandeln Alcoa und die isländische Regierung über den Bau einer weiteren Anlage im nördlichen Husavik. Hierbei soll die Stromerzeugung über Geothermie erfolgen. Momentan laufen die Machbarkeitsstudien. Die regenerativen Energien machten Island zu einem „idealen Standort“ für eine umweltfreundliche Aluminiumindustrie, schwärmt Islands Industrie- und Handelsministerin Valgerdur Sverrisdottir. Nicht berücksichtigt sind in dieser Umweltbilanz jedoch die Transportkosten: „Rohstoffe und Fertigprodukte müssen um die halbe Welt verschifft werden“, kritisiert Olafsson.

Nicht nur Island setzt auf das Exportprodukt Aluminium: So wird auch in Katar gerade eine Schmelze gebaut, die mit dem minderwertigen Gas betrieben werden soll, das bisher bei der Ölförderung einfach abgefackelt wird. China wiederum hat sein Produktionsvolumen in fünf Jahren von 2 auf 11 Millionen Tonnen gesteigert. Dennoch rechnet die Branche damit, dass sich die Aluminiumschmelze auf Island lohnt: „Sonst würde Alcoa nicht investieren“, sagt ein Insider.

„Trotzdem wäre es wirtschaftlich viel sinnvoller gewesen, in den Ökotourismus zu investieren“, sagte der isländische Regisseur Ómar Ragnarsson der taz, der für seine Naturfilme internationale Auszeichnungen erhielt. Als Beispiel erzählt er eine beliebte Anekdote über Europas größten Wasserfall Gullfoss: Vor knapp hundert Jahren wollte ihn die isländische Regierung zur Stromerzeugung nutzen. Als die Tochter des Landbesitzers drohte, sich den Wasserfall hinunterzustürzen, wurde das Kraftwerk nicht gebaut. Heute werden die Wasserfälle jährlich von über 300.000 Touristen besucht.

BENJAMIN WÜNSCH