die taz vor 16 Jahren über einen notstand in nord- und ostsee
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Seehunde sterben, Algen wuchern. Küstengewässer kollabieren unter einem beängstigend wachsenden Algengürtel, der alles Leben erstickt. Seehunde und Robben krepieren mit schäumendem Maul. Und der Umweltminister ist immerhin schon besorgt.

Die Ursache für die Rache der Nord- und Ostsee ist längst deutsches Bildungsgut: zuviel Gift, zuviel Stickstoff, Phosphor, PCP, zuviel Industrie, zuviel Mensch, jahrzehntelang. Sie führen jetzt zur Katastrophe.

Umweltschutz im ausgehenden 20. Jahrhundert heißt: den industriellen Zerstörungs-Feldzug gegen die Biosphäre durch Reparatur- und Schutzleistungen soweit im Zaum zu halten, daß bei optimaler Ressourcen-Ausplünderung der GAU gerade noch vermieden wird.

Doch in komplexen, eng vernetzten ozeanischen Systemen wie der Nordsee oder Ostsee lassen offenbar schon kleine Schwankungen, ein warmes Frühjahr mit leicht erhöhten Wassertemperaturen, die bis zum Grenzbereich ausgereizte Natur rebellieren.

Was ist zu tun? Algenpest und Seehund-Sterben bedeuten Notstand.

Der Notstand muß ausgerufen werden. Einleitungsverbote an Nord- und Ostsee und vor allem an den großen Flüssen – neben dem Lufteintrag hauptverantwortlich für die Belastung – müssen her!

Eine Woche produktionsfrei für alle Chemiebetriebe!

Können wir uns das überhaupt noch vorstellen? Gibt es noch einen Versuch, die katastrophale Zwangsläufigkeit zumindest gedanklich in Frage zu stellen? Gibt es noch irgendein „Ereignis“, das den alltäglichen Gang dieser Industriegesellschaft in Frage stellt?

Manfred Kriener, 31. 5. 1988