Theater des Für und Wider

KRITIK Das Stück „Wegschließen und zwar für immer!“ bezieht keine Stellung zum Thema Sicherungsverwahrung

Rudi vergewaltigte vor Jahren mehrere Frauen. Heute ist seine Zelle klein. Er sitzt im Halbdunkeln auf dem Bett, greift nach der Toilette und öffnet den Deckel. Blaues Licht strahlt aus dem Lokus. Das gleiche Licht spiegeln die Gesichter der drei Namenlosen, die im Halbdunkeln hinter ihm stehen und den Shitstorm rezitieren: „Das ist doch kein Mensch!“, „Bestie!“, „Kopfschuss!“, „Gaskammer!“, lesen sie von ihren Handys ab. Rudi meint: „Ich habe meine Strafe abgesessen.“ Tatsächlich ist er formal frei. Aber die Gutachter glauben, dass er wieder vergewaltigen könnte. Deswegen bleibt er präventiv drin.

„Wegschließen und zwar für immer!“ ist dokumentarisches Theater. Jeder Textschnipsel ist irgendwo und irgendwann so gesagt oder geschrieben worden. Volkes Zorn hat beispielsweise auf Facebook stattgefunden. Und die Theatermacher Nico Dietrich und Inken Kautter haben Interviews mit praktisch allen an der Sicherungsverwahrung Beteiligten geführt und alle kommen zu Wort: Richter, Sachverständige, Anwälte, Kriminologen, Wächter und Insassen. Das Stück ist die Fortschreibung von „Wegschließen, am besten für immer! – Ein kritischer Kontrollgang“, das Dietrich und Kautter 2012 in Köln inszenierten.

Ausgangspunkt für das neue Stück am Deutschen Theater in Göttingen, das auch im Schlosstheater in Celle gezeigt wird, ist nun der Umzug der Celler Sicherheitsverwahrten nach Rosdorf bei Göttingen. Hier sitzen seit diesem Sommer alle, die in Niedersachsen als zu gefährlich für die reguläre Entlassung gelten. Über 40 Appartements wurden für sie gebaut. Der Grund dafür sind eine Reihe von Urteilen. So beschied unter anderem das Bundesverfassungsgericht das sogenannte „Abstandsgebot“. Demnach müssen Sicherungsverwahrte bessere Bedingungen haben als normalen Insassen.

Im vergangenen Jahr lebten in Deutschland 466 Menschen in Sicherungsverwahrung. 1990 waren es 182. Die Zahl ist nicht gestiegen, weil es mehr Taten gibt, sondern weil die Gesetze schärfer wurden. Ein Autounfall ist wahrscheinlicher, als Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. „Lässt man deswegen die Autos verbieten?“, fragt eine Schauspielerin rhetorisch. Diese Abwägung ist der Mittelpunkt des Stücks.

Winston Churchill sagt: „Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren schwersten Straftätern umgeht.“ Nur zwölf Prozent der Sicherheitsverwahrten gehörten zur „Hochrisikogruppe“, die tatsächlich rückfällig wird, rechnet der gespielte Kriminologe vor. Aber die „kann man nicht herausfiltern und deshalb muss eine Gesellschaft ein gewisses Risiko aushalten“. Oder eben 88 Prozent zu unrecht wegsperren.

Es sind unterhaltsame und intelligente 90 Minuten. Dabei lebt das Stück vor allem von der Präsentation von Fakten: Dietrich und Kautter zeigen eine theatrale Diskursanalyse. Verwunderlich, dass das klappt und nicht dröge wird. Der Grund dafür ist, dass die Schauspieler nicht nur Interviews rezitieren, sondern auch mit den Affekten spielen: Immer wieder gibt es absurde, traurige und witzige Momente. Dietrich und Kautter halten kein Plädoyer gegen die Sicherungsverwahrung. Aber ihr Publikum grübelt schließlich darüber, ob das nicht alles ein bisschen übertrieben und einer vorgeblich freien Gesellschaft unangemessen ist.

Besonders gut ist „Wegschließen und zwar für immer“, wenn es aus Zuschauern Teilnehmer macht: Zur Spielstätte im Deutschen Theater, dem DT Studio, geht es ein paar Stufen hinab. Am Einlass stehen Justizvollzugsbeamte. Einer legt die Stirn in massive Falten, blickt die Treppe rauf und sagt: „Kommen Sie mal runter, ich muss Sie kontrollieren können!“ Die Zuschauer werden zu Insassen. Der Unterschied: Sie dürfen wieder raus.  JAKOB EPLER

Nächste Termine: 14., 15. und 20. 12., 20 Uhr