Die Scheu vor dem M-Wort

Zehlendorf steht nach dem Mord an dem siebenjährigen Christian vor neun Monaten immer noch unter Schock, wie eine Diskussion mit Bürgern zeigt

Die Kirche Schönow-Buschgraben in Zehlendorf-Süd ist ein moderner Spitzdachbau. Viel Glas, viel Holz. Fast möchte man sagen: eine heitere Architektur. Die Stuhlreihen sind fast vollständig besetzt. Zwei-, dreihundert Menschen, vor allem ältere. Sie tuscheln leise. Gedämpft.

Zehlendorf-Süd, das ist nicht das Zehlendorf der Villen. Licht gestaffelte Mietshäuser aus den 50er- und 60er-Jahren, 11.600 Einwohner, 5,1 Prozent Arbeitslosigkeit, 3,8 Prozent Sozialhilfeempfänger. Ein beschauliches Fleckchen Berlin, ein ruhiges. Eigentlich. Bis zum 27. August vergangenen Jahres. Bis zum Tod des kleinen Christian, sieben Jahre alt. Gefoltert wurde er, sexuell missbraucht, er ist an inneren Verletzungen verblutet. Sein Vater fand ihn in einem Gebüsch nahe der Wohnung. Zwei Tage später wurde der mutmaßliche Täter festgenommen. Es ist ein als so genannter Intensivtäter bekannter 16-Jähriger aus der Nachbarschaft. Einer von hier.

Man kann die Schockwellen immer noch spüren an diesem Dienstagabend. Gemeinsam mit dem Runden Tisch Zehlendorf-Süd haben die Parteien im Kiez zu einer Informationsveranstaltung geladen. Sie heißt: „Zehlendorf-Süd nach dem 27. 8. 2005“.

Fast jeder, der mitredet in den zweieinhalb Stunden, meidet das Wort „Mord“. „Vorkommnis“, sagt eine Frau aus dem Publikum, „furchtbares Unglück“ nennt es Dagmar Sunkel von der FDP. Nur einmal redet ein Jugendamtvertreter vom „furchtbaren Mordfall im Sommer“ – und spricht es aus, das M-Wort und damit das Grauen, das seitdem über dem Kiez lastet. Hier, wo man doch „nicht von einem kriminalitätsbelasteten Bereich sprechen“ könne, wie Andreas Pahl sagt, der Leiter der für Zehlendorf zuständigen Polizeidirektion. Wo die Kriminalität in den ersten vier Monaten des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 48 Prozent gesunken wäre, auf 113 Straftaten, Pahls Zeigefinger pocht auf den Tisch, immer wieder.

Als der Moderator der Runde den „Amoklauf“ eines 16-jährigen Messerstechers nach der Eröffnung des Hauptbahnhofs erwähnt und dass dieser „der auch auf eine Zehlendorfer Schule ging“, geht ein Raunen durch die Zuschauer. Es ist kurz, heftig – und vergeht ganz schnell.

„Vorbildhaft für andere Bezirke und Kieze“, „beispielhaft“: Die Kiezpolitiker finden viele lobende Worte für die Verarbeitung des Verbrechens in Zehlendorf-Süd. Zu Recht. „Ich habe das Gefühl, dass im Kiez wieder Bürgerengagement eingekehrt ist“, sagt etwa Irene Köhne von der SPD. „Man achtet wieder mehr aufeinander.“ Ein knappes Dutzend Jugendeinrichtungen gibt es hier, zwei davon sind seit Anfang des Jahres auch am Wochenende geöffnet, die Streetworker bekamen mehr Arbeitsstunden, ein Kieztreff ist geplant.

Aber was ist mit jenen Jugendlichen, um die es eigentlich gehen müsste an diesem Abend? Die „Problemjugendlichen“, wie sie ein Besucher nennt. Jugendliche wie Ken M., die andere bedrohen oder Schlimmeres. „Diejenigen, die man erreichen müsste, erreicht man am schwersten“, sagt Dagmar Hillerdt vom freien Jugendhilfeverein Zephyr. Ein Mittvierziger steht auf. „Ist mein Kind auf dem Schulweg jetzt sicherer? Wenn wir die Frage nicht ansprechen, werden viele unzufrieden nach Hause gehen.“ Seine Frage hallt wider unter dem hohen Dach, sie bleibt irgendwo dort oben hängen. Bis zum Schluss.

2.000 Menschen unter 21 Jahren leben in Zehlendorf-Süd. Keiner von ihnen ist am Dienstagabend gekommen. Als die Besucher still am Ende aus der Kirche gleiten, als sie hinausgehen in die trübe Mainacht, radeln drei vielleicht Vierzehnjährige vorbei, mit Karacho. „Deutschland, Deutschland“, grölt einer. „Zwei zu zwei gegen Japan. Peinliche Leistung, aber egal.“ ERIK HEIER