Sinnvolles Sprechen, auch ohne Worte

KLASSISCHES Nachwuchs-Star: Der Pianist Igor Levit gab im Kammermusiksaal der Philharmonie mit Beethoven und Rzewski sein Berliner Debütkonzert

Marketing-Strategie oder verdientes Lob? Der deutsch-russische Pianist Igor Levit hat eine Bürde zu tragen, für die er selbst lediglich indirekt verantwortlich zu machen ist. Im Jahr 2010, er war gerade einmal 23 Jahre alt, bescheinigte ihm die FAZ-Musikredakteurin Eleonore Büning in einem Artikel: „Dieser junge Mann hat nicht nur das Zeug, einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts zu werden. Er ist es schon.“ Am Dienstag hatte man im Kammermusiksaal der Philharmonie Gelegenheit, sich aus nächster Nähe ein Urteil über die Größe Levits zu machen.

Der 1987 in Nischni Nowgorod geborene Levit wirkt schmächtig, wie ein überreifer Junge, der sich seiner Sache mit Ernst und wenig Allüren widmet. Ohne lange Umwege steuert er den Flügel an, wartet kurz, bis die letzten Huster und Rascheler etwas Ruhe gegeben haben, und legt los. Für Ernst spricht auch die Auswahl des Programms: eine späte Beethoven-Sonate, eine Ballade des US-amerikanischen Komponisten Frederic Rzewski, streng Kontrapunktisches vom Barock-Komponisten Georg Muffat.

Schon bei Muffats Passacaglia – einer Variation über einem Ostinato-Bass, eine Frühform des Loops, wenn man so will –, die Levit mit geringem Einsatz des Haltepedals spielt, fällt die konzentrierte Spannung auf, mit der alle Stimmen herausgehoben werden. Levit spielt klar und mit zurückgenommenem Ausdruck, aber eben so, dass jedes Motiv zu seinem vollen Recht kommt.

Im Vergleich zu Beethoven wirkt die Passacaglia aber fast wie eine Fingerübung. Denn die scheinbar improvisierte Sonate Nr. 30, in der der mittlerweile taube Komponist sich von Formvorgaben löste und die offenen Impromptus der Romantik vorwegnahm, wird bei Levit zu einer ausgedehnten Rede an das Publikum. Was an Levit fasziniert, ist nicht allein die Technik, mit der er sein Material beherrscht, sondern die Art, wie er Themen und Motive zum Singen bringt. Man hat den Eindruck, die Musik spreche zu einem ohne Worte. Jeder einzelne Ton wirkt unter Levits Fingern notwendig und sinnvoll. Sein Pathos steht ganz im Dienste der größtmöglichen Klarheit, und das kommt insbesondere in den langsamen Passagen wie dem dritten langen Variationssatz ergreifend zur Geltung.

Ähnlich verfährt Levit mit der Ballade „Which Side Are You On?“ von Frederic Rzewski, dem einzigen lebenden Komponisten des Programms. Rzewski gelingt es in seinen Werken stets, technische Höchstanforderungen – er ist selbst Pianist – mit politischer Haltung zu verbinden. Mit dem Variationszyklus „The People United Will Never Be Defeated“ etwa schuf er einen Klassiker des 20. Jahrhunderts, mit dem der bekennende Sozialist zugleich dem chilenischen Widerstandslied „¡El pueblo unido jamás será vencido!“ die Ehre erwies.

Rzewskis virtuose Ballade beruht auf einem Protestsong aus den Dreißiger Jahren, der zur Unterstützung der Gewerkschaften auffordert. Die Melodie wird erst selbstbewusst vorgetragen, gerät dann auf halber Strecke ins Stocken, scheint fast in stiller Nostalgie zu verschwinden, um zum Schluss mit wiedererstarkten Kräften zurückzukehren. Levit zeichnete die verschiedenen Stadien plausibel und durchweg beweglich nach.

Die Werke der zweiten Hälfte standen eher in der romantischen Virtuosentradition, interessant war hier vor allem, dass es sich in beiden Fällen um Opernbearbeitungen handelte. Richard Wagners „Feierlicher Marsch“ aus dem „Parsifal“ war dabei das weniger bemerkenswerte Stück. Konzeptuell ausgefeilter gab sich die Klavierbearbeitung von Franz Liszts „Fantasie und Fuge für Orgel über den Choral ‚Ad nos, ad salutarem undam‘“ aus. Dieser Choral stammt nämlich nicht aus der kirchlichen Liturgie, sondern aus der Oper „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer. Ein herrlich überkandideltes Tastengeklingel, in dem Levit noch einmal unter Beweis stellte: Die Energie kommt nicht aus der Geschwindigkeit, sondern aus der wohlartikulierten Präzision im gedrosselten Tempo. Jahrhundertpianist? Nun gut, wir und er sind ja noch am Anfang.

TIM CASPAR BOEHME