Wo die Fußballer wachsen

AUFSTIEG Nico und Pablo trainieren genau in jenem argentinischen Verein, in dem einst Fußballgott Diego Maradona entdeckt wurde. Die Jungen trainieren hart. Und hoffen

■  Jessica Zeller, 32, kennt Buenos Aires fast so gut wie Berlin – seit 2001 war die Deutsche ein Dutzend Mal in Lateinamerika und hat von dort berichtet. Als freie Journalistin arbeitet sie für Deutschlandradio Kultur, verfasst Reportagen und Features, u. a. für die taz, den WDR und DLF.

■  Amélie Losier, 34, hat ihre Schwerpunkte in der Reportage- und Porträtfotografie. Die Französin lebt seit zehn Jahren in Berlin und hat bei Arno Fischer studiert. Sie arbeitet als freiberufliche Fotografin, u a. für die taz und Le Monde. Ihre Arbeiten wurden zum Teil auch in Buchform veröffentlicht.

VON JESSICA ZELLER
(TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Wenn am 12. Juni um 11 Uhr argentinischer Ortszeit Maradonas Elf gegen Nigeria antritt, sitzen Nico und Pablo vor dem Fernseher. Der eine vor dem riesigen Flachbildschirm im Wohnzimmer, der andere vor der krisseligen Flimmerkiste auf dem Bett seiner Eltern. Fußball ist ihr Leben, Nico und Pablo wollen später selbst in der argentinischen Auswahl mit dabei sein, vielleicht 2014, sicher aber 2018. Nicolás Forastiero als Torwart, Pablo Escobar als Angreifer.

Nico, der Mittelschichtssohn, ist jetzt elf Jahre alt, Pablo aus einem Armenviertel von Buenos Aires gerade dreizehn geworden. Jeden Tag trainieren die beiden für ihre Profikarriere auf den Feldern der Kinder- und Jugendmannschaften der Asociación Atlética Argentinos Juniors im Viertel Bajo Flores am Stadtrand von Buenos Aires. Im Jahr 1969 wurde hier Diego Armando Maradona entdeckt, der Fußballgott. Neun Jahre war er damals erst alt, mit seiner Mannschaft „Die Zwiebelchen“ blieb er über Jahre hinweg ungeschlagen. Mit knapp sechzehn debütierte der „Goldjunge“ bei den Erwachsenen und schoss das entscheidende Tor. 1981 wurde Maradona an der bekannte argentinische Fußballclub Boca Juniors ausgeliehen, ein Jahr später für die Rekordsumme von sechs Millionen Dollar an Barcelona verkauft. Argentinos Juniors schrieb mit ihm Geschichte, der Klub nennt sich seitdem das „Saatfeld der Welt“ –der Club für den Fußballnachwuchs. Die Liste der Weltklassespieler, die mit der Hand Gottes beginnt und mit Sorín, Redondo, Riquelme und Cambiasso weitergeht. Pablo und Nico träumen davon, ihnen zu folgen.

„Maradona kam von ganz unten, aus dem Armenviertel, und wurde der beste Fußballer der Welt“, sagt Fernando Batista, der Talentscout des Vereins. „Das ist natürlich ein Ansporn, gerade für die Kinder, denen es zu Hause nicht so gut geht.“ Batista, den alle hier wegen seines Kugelkopfs nur „Bocha“ nennen, hat Nico und Pablo beim „Baby Fútbol“ entdeckt. Sobald argentinische Jungen laufen können, fangen sie an, in den Sportvereinen ihres Wohnviertels Hallenfußball zu spielen, fünf gegen fünf. Dabei werden die Babys von Beginn an von Männern wie Bocha beobachtet. Nico war sieben, als er zu Argentinos Juniors kam, Pablo noch nicht mal sechs Jahre alt. In beide Jungen setzt er große Hoffnungen.

Doch die Orte, an denen sie angefangen haben zu kicken, haben außer einem Spielfeld mit zwei Toren nichts gemeinsam. Nico kommt aus Villa del Parque, einem Bezirk im Westen der Hauptstadt. Hier ziehen argentinische Familien hin, wenn sie sich ein Haus kaufen können, kein großes zwar, aber doch eines mit Garten zum Fußballspielen, in dem die ganze Familie ausreichend Platz hat. Bei den Forastieros sind das Vater, Mutter, Großvater und drei Söhne. Nico ist der älteste von ihnen. Er hat dunkelblonde, halblange Haare, ist muskulös gebaut und sehr groß für sein Alter. Auch den Stimmbruch hat er schon hinter sich. Nico ist kein Kind mehr, sondern ein kleiner Erwachsener. Er lacht selten. Seine Position im Tor entspricht seiner Haltung zum Leben: Er sorgt für Ordnung und behält den Überblick. „Als Torwart musst du genau wissen, was du tust. Ein Fehler, und das Spiel geht verloren“, formuliert er nebenher, ohne mit der Wimper zu zucken. So ist es eben das Spiel – Sieg oder Niederlage –, es ist abhängig vom eigenen Können oder Versagen.

Nicos Vater Alejandro sieht das genauso. Auf ihn passt der Begriff Patriarch – mein Haus, mein Auto, meine Familie. All das beherrscht er mit seiner lauten, durchdringenden Stimme. Der ehemalige Sportler, auch er war in seiner Jugend Torwart, arbeitet heute in der Catering-Firma seines Vaters. Noch in der zweiten Liga, doch sein Aufstieg ist nur eine Frage der Zeit. Alejandro ist stolz auf Nico: „In Nico sehe ich mich selbst, als ich jung war. Er spielt in der gleichen Position wie ich einst und sieht genauso aus.“ Ob sein Sohn Profispieler wird? Für Alejandro ist das eine Möglichkeit. Die andere ist, dass er den Sport irgendwann sein lässt und in die dritte Liga des Familienbetriebs eintritt.

Pablo hat weniger Alternativen. Er muss einfach Fußballer werden. Immerhin hat er vier ältere Brüder, die es vor ihm nicht geschafft haben, eine Profikarriere hinzulegen. Dann gibt es noch vier Schwestern. Die Eltern dazugezählt, ist die Familie so groß wie eine Fußballmannschaft. Mit seinen braunen Haaren und den gebleichten Strähnchen erinnert Pablo an ein junges Reh: schnell und auf der Flucht. Seine Position ist im rechten Mittelfeld, dort muss man wissen, wie man den Gegnern mit dem Ball davoneilt. Pablo ist zwar nicht klein, aber dünn, sehr dünn. So dünn immerhin, dass sich die Trainer von Argentinos Juniors Gedanken machen, ob er zu Hause bei seinen Eltern überhaupt genug zu essen bekommt.

Denn Pablos Familie wohnt nicht wie die von Nico im beschützten Reihenhaus-Umfeld, bezahlt von der Familienfirma. Sie wohnt in einer dreißig Quadratmeter großen Steinbaracke mit Wellblechdach in Villa Madero, einem Armenviertel in der Provinz Buenos Aires. Pablos Hoffnung und die seiner Eltern ist es, dass er mit seinem Gehalt als Profifußballer später einmal die Familie ernährt. „Ich lasse mein Armenviertel nicht im Stich, auch wenn ich mal eine Riesengage bekomme. Denn hier komme ich her“, sagt der Junge mit viel Hoffnung in der Stimme, schließlich hat er beim letzten Pokalfinale das entscheidende Tor geschossen. Pablos Vater hat als Maurer nur Gelegenheitsjobs, seine älteren Brüder arbeiten im Lager eines Supermarkts.

Sobald argentinische Jungen laufen können, fangen sie an, in den Sportvereinen Hallenfußball zu spielen

Pablo muss zunehmen

Seine Mutter Maria del Carmen, liebevoll von allen „La Negra“, „Die Schwarze“, genannt, war neunzehn Jahre alt, als sie der armen ländlichen Provinz Santiago del Estero den Rücken kehrte und das Glück suchte. Heute hat die 42-Jährige kaum noch Zähne, ihre Haut ist dunkel, aber farblos, und aufgrund einer Lebensmittelvergiftung verlor sie ihr Haar. Pablo, bei ihr stets „Pablito“, ist ihr Lieblingskind. Sie begleitet ihn zu jedem Training und zu jedem Heimspiel. Doch vielleicht nicht mehr lange. Bocha hat schon angekündigt, dass Pablo im Herbst ins Internat des Vereins in die Hauptstadt muss, wenn er nicht endlich ein paar Kilo zunimmt.

Doch bis dahin ist noch eine Weltmeisterschaft und drei Monate Zeit. Fußball ist wie das Leben: für viele Überraschungen gut. Ob Pablo zunimmt, Nico seinen Vater austrickst und Maradona die beiden in sein Team holt? Möglich ist es. Möglich ist aber auch, dass Nigeria gewinnt.