Staubfreier Postrock statt Weltmusik

Das Moers Festival nach dem Neustart: Alte Avantgarde und neue Elektronik überzeugen. Weniger Besucher

20 Jahre nach dem letzten Auftritt blies Brötzmann den Besuchern die Ohren durch

Der französische Gitarrist Marc Ducret ließ kein gutes Haar am Zustand der frei improvisierten Musik in Europa. Während des wunderbaren Konzerts seines Trios beim diesjährigen Moers Festival verwies er auf die aktuelle CD, die es am Festivalstand zu kaufen gebe. Selbst produziert, versteht sich: „It speaks for itself“. Kein Label mochte sich der sperrigen Avantgarde annehmen. Unvorstellbar: Gemeinsam mit dem Bassisten Bruno Chevillon und dem Schlagzeuger Eric Echampard wechselte er ständig zwischen beinahe lyrischen Komponenten und lauten Eruptionen. Jeder noch so zarte Wohlklang wurde von scharfen Saiten und pulsierenden Beats durchtrennt – free minded im allerbesten Sinne. Ein Glück, dass auch der neue Leiter des Moers Festivals, Reiner Michalke, ein offenes Ohr für derartige Musik hat.

Das 35. Festival war das erste ohne Gründer Burkhard Hennen. Die anfängliche Skepsis der Moers-Kenner ließ sich nur mühsam vertreiben. So blieb die Zahl der verkauften Tickets mit knapp 8.000 leicht hinter den Vorjahren zurück. Michalke hat die in den vergangenen Jahren dominierende Weltmusik fast vollständig aus dem Programm verbannt und statt dessen das Feld für elektronische, teilweise fast poppige Sounds geöffnet – ein Wandel, der bis in die frühen Morgenstunden in den Clubs der Stadt zu hören war. Das Stammpublikum muss sich erst daran gewöhnen.

Was blieb, war der bunte Jahrmarkt in und um den Moerser Freizeitpark. Kleinere Neuerungen im seit Jahrzehnten unveränderten Festivalablauf konnten die Stammgäste nur anfänglich verunsichern: Nach zwei Tagen hatte man sich daran gewöhnt, dass die morgendlichen „Projekte“ jetzt „in the morning“ hießen und nicht mehr in den Schulen stattfanden. Lediglich die neuen Moderatoren, die versuchten, dem nach Musik lechzendem Volk die jeweiligen Konzerte umständlich zu erklären, wirkten auch am letzten Festivaltag noch deplatziert.

Ein alter Bekannter aus Zeiten, als das Label „NewJazz“ noch die Festivalplakate bestimmte, fand den Weg zurück an den Niederrhein: 20 Jahre nach seinem ersten Moers-Auftritt blies der Wuppertaler Saxofonist Peter Brötzmann den Besuchern die Ohren durch. Der Protagonist des europäischen FreeJazz bewegte sich mit dem Schweizer E-Bassisten Marino Pliakas und dessen Landsmann und Drummer Michael Wertmüller permanent an der Grenze: Grindcore, Hardcore, Freejazz – das Publikum wusste schnell, was es in den vergangenen beiden Dekaden verpasst hatte.

Die Band Inhabitands aus Vancouver überzeugte mit staubfreien Postrock-Anklängen und einem verträumt, verspielten Gesamtsound. Leider musste das Quartett aus Zeitgründen ohne Zugabe von der Bühne. Eine Option, die nur den bekannteren Acts zugestanden wurde: Der norwegische Keyboard-Tüftler Bugge Wesseltoft traf den Gitarristen John Scofield, Trompeter Nils Petter Molvaer freute sich auf seinen Wunschpartner Bill Laswell. Beide Formationen brachten nette Jam-Sessions auf die Bühne, der überwältigende Applaus war eher den klangvollen Namen geschuldet. Saxofonlegende Dewey Redman brachte das Festivals zum Festivalabschluss zu seinen Roots zurück.

In den kommenden Jahren plant Festivalchef Michalke größere Veränderungen. So will er für das riesige Zirkuszelt, in dem seit Jahren die Konzerte statt finden, einen Ersatz suchen. Das Ambiente sei derzeit nur die „am wenigsten schlechte Lösung“. Wenn er sich da mal nicht täuscht. Die ungezwungene, lockere Zirkusatmosphäre lässt die Besucher auch über schwächere Momente hinwegdösen – und die gab es auch in diesem Jahr.

HOLGER PAULER