berliner szenen Bilderstürmer

Die Nachtfalter am Zoo

Elf Uhr abends im Bahnhof Zoo. Ich bin zu früh da und schlendere den Bahnsteig hinauf. Das Bahnhofsgebäude hat an seinem Bedeutungsverlust schwer zu knuspern und ist fast völlig leer. Nur ganz am Ende sehe ich es orange leuchten – als ich näher komme, kann ich sieben in Warnwesten gepackte Männer erkennen, die auf einem schmalen Streifen hinter den Gleisen in einer Reihe stehen. Unauffällig setze ich mich in einen der dunkelgrünen Drahtsitze und beobachte sie. Über ihnen hängt ein riesenhaftes Plakat, auf dem sich junge, unrealistisch attraktive Menschen für ein Modelabel räkeln. Unten sortieren sich die Männer, die allesamt realistisch hässlich sind. Dann wackelt das Plakat. Zwei von ihnen halten Drahtseile in der Hand und lassen es langsam ab, der Rest rollt es gewissenhaft auf. Sie sind damit beschäftigt, an den Wänden Platz zu schaffen für neue Werbeflächen.

Eigentlich hätte die S-Bahn gleich Einfahrt. Die Orangen schauen auch immer wieder besorgt in die Richtung, aus der die Bahn kommen müsste. Eine der bunten Leinwände haben sie bereits abgeseilt, eine weitere wird gerade in Angriff genommen. Doch plötzlich hakt es irgendwo und das Plakat hängt schief. Der Vorgesetzte brüllt irgendeinen Befehl. Unruhig sehe ich auf die Anzeigetafel, aber von Verspätung steht da nichts. Die Männer zurren und zuppeln hektisch an den Seilen, es ruckt und endlich klappt es wieder. Schnell lassen sie die schönen Menschen ab und rollen sie zusammen.

Die Bahn kommt, einer tutet mit einer Art Posthorn. Erschöpft stehen sie an die Wand gelehnt wie fürs Klassenfoto und grüßen den Zugführer in seinem S-Bahn-Cockpit. Dann verschwinden sie hinter den Waggons. Ich atme auf. Was für ein wildes, gefährliches Leben. HANNES BAJOHR