Kunstfehler sind erwünscht


„So ein Haus gab es nicht, ich konnte keinen um Rat fragen, musste alle Fehler selber machen“

AUS ESSEN SIMON BÜCKLE

Orangene Schalensessel, apfelgrüne Designersofas, elliptische Tische – den Eingang zum „Unperfekthaus“ bildet das Restaurant-Café „Lebensraum“ im Erdgeschoss. Hier herrscht Stille, treffen sich Werbedesigner und Kunstfotografen, um sich ihre neuen Projekte auf Laptops vorzuführen. So der erste Eindruck. Die Unperfektion, das Motto des Hauses in der Essener Innenstadt, ist nicht spürbar. „Das ist wahrscheinlich der perfekteste Teil des ganzen Gebäudes“, sagt Reinhard Wiesemann, der „Erfinder“ des Hauses. „Das muss auch so sein. Wenn wir hier schon anfingen mit dem Chaos, das teilweise da oben herrscht, würden wir viele Besucher verschrecken“, erklärt er und grinst.

Über Reinhard Wiesemann heißt es schon mal, er sei früher ein „typischer Nerd“ gewesen, der „im Keller seines Elternhauses die Nächte mit Herumtüfteln verbrachte“. Wiesemann: „Trifft voll zu.“ Der 46-Jährige trägt ein kariertes Hemd unter einer grünen Strickjacke und braune Cord-Hosen. Wenn er mit Gleichungen und Diagrammen seine Ansichten erklärt, untermauert er diese mit einer beschreibenden Bewegung, malt mit Vorliebe Koordinatenkreuze in die Luft.

Er scheint auf den ersten Blick ein organisierter Mensch zu sein, seine Interessen liegen jedoch woanders. „In einem Land, das Perfektion auf seine Fahnen schreibt, in dem alles immer funktionieren muss, kann nicht mehr viel passieren. Man muss sich entscheiden: Entweder große Ordnung oder viel Aktivität – das schließt sich gegenseitig aus“, sagt Wiesemann. „Je perfekter wir also einen Raum gestalten, desto mehr Leuten geben wir einen Tritt in den Hintern“, ergänzt er, schiebt den Kopf nach vorn und zieht die Mundwinkel hoch.

Und so kaufte er das ehemalige Franziskanerkloster in der Essener City und eröffnete vor zwei Jahren das Unperfekthaus. Das Konzept ist einfach. Wiesemann stellt jedem, der darin etwas schaffen will, kostenlos Räume zur Verfügung. Bedingung: Es muss kreativ und legal sein. Die Miete: Zuschauerinteresse, denn die Besucher sind die Einnahmequelle des Hauses. Publikum zu bekommen, sei ein Problem, das man alleine kaum lösen könne, sagt Wiesemann. „Und da haben die Kreativen und ich ja ein gemeinsames Interesse.“

Solange sie als Künstler unbekannt sind, sei das Haus ein Gewinn für die Kreativen, meint Wiesemann. „Das ist ein sich selbst regulierender Prozess“. In dem Maße, in dem sie bekannter werden, lasse dieser Effekt nach. „Irgendwann überlegen die sich: ‚Heute waren schon wieder so und so viele Leute da, die wegen mir gekommen sind und unten Eintritt gezahlt haben. Das würde ich lieber selbst verdienen‘“, erklärt er. Bis es soweit sei, dauere es aber vier, fünf Jahre, schätzt er.

Wiesemann ist kein kulturbegeisterter Überzeugungstäter, eher ein Unternehmer mit Herz. Er will zwar Spaß haben und etwas Gemeinnütziges tun, aber auch Geld verdienen. Damit möglichst viele zahlende Gäste kommen, muss sich jeder Kreative über die Schulter schauen lassen. Das Gebäude wirkt wie eine offene Schule. Von den Gängen gehen Zimmer ab. In manche können die Besucher durch ein Fenster blicken. Wenn die Kreativen da sind, stehen die Türen offen. Das mutet fast schon wie ein Zoo an: In jedem Kämmerchen sitzt eine andere Kreativ-Art und lässt sich beobachten. Doch im Unperfekthaus ist Nähertreten nicht verboten, Ansprechen sogar erwünscht. Ariyadasa Kandege muss nicht angesprochen werden, für das Gespräch sorgt der Maler schon selbst. Im ersten Zimmer des ersten Stockwerks hat der 55-Jährige sein kleines Atelier. Da an den Wänden kein Platz mehr ist, stehen viele Bilder auf dem Boden, zwischen einem kleinem Radio, Teetassen und Kartons. Sogar einen Postkartenständer hat der gebürtige Sri Lanker in dem winzigen Raum untergebracht.

„Ari“, wie er sich selbst nennt, hatte früher eine Führungsposition in der Gastronomie. Wenn nun ein Besucher eintritt, heißt er ihn mit jener offensiven Freundlichkeit willkommen, die früher wohl zu seinem Beruf gehörte. Mit seinem sauber gescheitelten weißen Haar, der goldgerahmten Brille und dem gestutzten Bart sieht er aus wie der Manager eines Strandhotels am Indischen Ozean.

Ari beherrscht die Kunst, die Wiesemann vorschwebt: Er kann Werbung für sich selbst machen und bringt sich als Künstler ins Gespräch. Er liebe die Malerei und seine neue Heimat: „Ob Osten oder Westen, das Ruhrgebiet ist am besten – das ist mein Motto“, sagt er und lächelt. Die Städte des Reviers malt er genauso gern wie Motive aus seiner Kultur, aber nicht in grauen Farben, sondern so bunt und grell wie das Hemd, das er trägt. „Pott-Art“ nennt er diesen Stil.

Am Ende des Ganges riecht es nach Holzspänen. Hier hobelt, sägt und schnitzt Evelyne Roth. Die Holzbildhauerin kam vor dreieinhalb Jahren aus der Schweiz ins Ruhrgebiet. „Ich hatte vom Unperfekthaus gelesen und fand das Projekt spannend“, sagt sie. „Im Mai letzten Jahres habe ich dann mein Projekt angemeldet.“ Wenn Evelyne Roth an der Werkbank arbeitet, muss sie sich auf einen kleinen Hocker stellen. Für die 36-Jährige ist das Konzept des Hauses bereits aufgegangen. „Ich war kaum hier, da habe ich schon einen großen Auftrag bekommen“, erzählt sie, während sie mit einem Meißel an einem Ornament arbeitet.

Doch nicht nur finanziell, auch kreativ bringt das Haus seine Mieter weiter. In ihrem Atelier in Marl arbeite sie allein, so Roth. Das müsse auch sein. Aber die zwei Tage, die sie pro Woche nach Essen kommt, bildeten eine gute Ergänzung. „Hier gibt es einen regen Austausch. So entstehen Ideen, auf die man allein nicht gekommen wäre.“ Selten allein ist Wolfgang Bort von der Kinderkulturwerkstatt im vierten Stock. Er hat einen langen, fusseligen Bart, eine Reibeisenstimme und erinnert mit seiner Brille an Harry Rowohlt. „Wenn die Kinder reinkommen, gehen sie erstmal an die Werkzeuge, dann ist Freestyle-Sägen angesagt“, brummelt er und lacht so trocken, dass es in ein Husten übergeht.

„Hier gibt es kein Faltblatt, keine Anleitung, die Kleinen sollen alles selbst probieren“, sagt Bort, gießt Essigessenz in ein Filmdöschen mit Backpulver und wartet ab. Nachdem der Deckel der Dose mit einem Knall durch den Raum geschossen ist, führt er seinen Gedanken zu Ende: „Das ist wichtig, damit sie Interesse an Physik oder Chemie bekommen.“

Auch das ist Teil des Konzeptes des Unperfekthauses: selber machen und dabei Fehler zulassen. „Erfinder“ Reinhard Wiesemann hat es mit seinem Projekt nicht anders gemacht. „So ein Haus gab es vorher nicht, ich konnte niemanden um Rat fragen und musste alle Fehler selber machen“, sagt er. Viel scheint er nicht falsch gemacht zu haben.

Sommerfest am 10. und 11. Juni, jeweils ab 11.30 Uhr, Friedrich-Ebert-Straße 18www.unperfekt.de