Traumhafte Abenteuer

„Das Schloss im Himmel“, ein Frühwerk des japanischen Animationsmeisters Hayao Miyazaki, startet heute in den Kinos, wo der Detailreichtum und die Zeichenkunst am besten zur Geltung kommen

von CHRISTOPH HUBER

Eines Tages fällt ein Traum vom Himmel. Und er wird den Jungen Pazu in den Himmel führen, an den Ort, auf den sich seine Sehnsucht richtet: Laputa, das sagenhafte schwebende Schloss, von dem sein Vater eine einzige Fotografie machte, an die niemand glauben wollte.

Der Traum, der vom Himmel fällt, hat die Gestalt des Mädchens Sheeta. Im packenden Action-Vorspiel von Hayao Miyazakis drittem Spielfilm „Das Schloss im Himmel“ wird erzählt wie, es dazu kam: Sheeta war vom zwielichtigen Regierungsbeamten Muska an Bord eines Luftschiffs entführt worden, weil sie einen magischen blauen Stein besitzt. Bei einem Angriff von Luftpiraten ist Sheeta nach außen geklettert und abgestürzt. Doch nach der in erdsatte Brauntöne getauchten Titelsequenz sieht man, wie der blaue Stein um Sheetas Hals zu leuchten beginnt – und ihr Sturz zu einem Schweben wird, das sie sanft in Pazus Hände gleiten lässt.

Das Braun des Irdischen, der Zone der Notwendigkeiten des Daseins, und das Blau des Himmels, der Zone der hochfliegenden Träume, sind die Leitfarben von „Schloss im Himmel“: Laputa ist ihre utopische Vereinigung, dort wird das Braun zu hoffnungsvollem Grün. Ein Ort, scheinbar losgelöst von den Zwängen der Erden-Existenz wie auch – ebenso scheinbar – ein Platz im Nirwana, an dem man doch mit beiden Beinen auf dem Boden stehen kann. Laputa ist in jeder Hinsicht ein Luftschloss, und jeder hat seinen Grund, danach zu jagen: Pazu will den Vater rehabilitieren, Sheeta ihre Wurzeln finden, die Armee eine Superwaffe, die Piraten Schätze – und Muska strebt gar nach der Weltherrschaft.

Es beginnt ein Wettrennen um Sheeta und den Stein: Das rätselhafte Laputa ist die Nabe der rotierenden Erzählung, rundherum greifen spannende, schauwertlastige Aktionen, schrittweise Enthüllung der Vorgeschichte und Charaktervertiefung speichenförmig ineinander. Nur anhand dieser Struktur, die von den zeitgleich populär werdenden Computer-Rollenspielen inspiriert ist, kann man den Film auf sein Entstehungsjahr 1986 datieren. (Es folgten viele Filme, die das Modell verspätet aufgegriffen haben, aber kaum einer hat es so produktiv zu nutzen gewusst.) Die ausladende Animation, jeder der handgezeichneten Kader von Miyazaki einzeln geprüft, ist vielleicht nicht, was man heute gerne „State of the Art“ nennt, aber sie ist in ihrem stupenden Detailreichtum von zeitloser Schönheit – wie bei allen Animationsklassikern nicht bloß technisch bestechend, sondern auch in der Imaginationskraft: Wie etwa beim Flug nach Laputa plötzlich ein höhenängstlicher, verzauberter Blick durch einen aufklaffenden Wolkenspalt auf die Meeresweite möglich wird, ist unvergesslich.

Die magische Mischung aus ehrfürchtiger Scheu und leisem Schaudern, die dieser Anblick provoziert, ist auch emblematisch für die außerordentliche Vielschichtigkeit von Miyazakis Filmen. Sie lassen darin die unsinnige Trennung zwischen Kinder- und Erwachsenenfilmen, an der gerade der Zeichentrick leidet, hinter sich und werden weltweit von allen Generationen gleichermaßen geliebt: Sie sind auf eine so einfache Weise kompliziert, dass es ganz natürlich scheint. Dass es keine einfachen Gegensätze, also auch kein Gut-Böse-Schema gibt, demonstrieren nicht nur spätere Szenen mit vermeintlich designierten Schurken wie den Piraten, den Armeebefehlshabern und sogar Muska, sondern am schönsten die Roboter von Laputa: Sie werden als verletzte Riesen eingeführt (einer stürzte vom Himmel und rief die Armee auf den Plan), zeigen sich dann als furchtgebietende Kampfmaschinen ebenso wie als letzte Hüter des Paradieses, die sogar nach dem kleinsten Vogelnest sehen. Ein einsamer Gartenroboter ist noch auf Laputa, als Pazu und Sheeta schließlich ankommen: „Er scheint nicht allein“, sagt der Junge, und sie vergießt eine Träne. Dann folgt ein Schnitt auf die erste Explosion: Die Armee greift an.

Selbst die Roboter und Maschinen wirken in Miyazakis Filmen wie beseelt (die kleineren Flieger schwirren wie Insekten). Neun spielfilmlange Wunder hat Miyazaki seit 1979 geschaffen, im deutschen Sprachraum ist er erst relativ spät entdeckt worden, mit „Das Schloss im Himmel“ wird nun ein erstes Frühwerk nachgereicht, im Kino, der Größe seiner Emotionen und seines Einfallsreichtums angemessen. Das vermeintliche Ende von Laputa, das sich im großen Finale anzukündigen scheint, ist auch ein Neuanfang: Die Überreste des Schlosses im Himmel treiben davon, und nur diejenigen, die verstanden haben, dass man es ziehen lassen muss, überleben. Denn wenn man all seiner Träume habhaft würde, worauf lohnte es sich dann noch zu hoffen?

„Das Schloss im Himmel“, Regie: Hayao Miyazaki, Animationsfilm, Japan 1986, 124 Min.