Sex ist keine Nichtigkeit

AUS WARSCHAUTINA VEIHELMANN

Es ist kalt in Warschau, als wir Karol Radziszewski begegnen. Der düstere Januar könnte eine Metapher sein für das, was man in den Zeitungen über die Situation polnischer Schwulen und Lesben liest. Von Steinwürfen hört man, von Parolen wie „Schwule vergasen!“, von Berufsverboten. Was geschieht da in Polen, fragt man sich in Deutschland. Bricht in Sachen Toleranz eine Eiszeit an, vergleichbar mit Deutschland der Fünfzigerjahre? Nieselregen setzt ein, Karol zieht sich die Kapuze über. Den Kopf gesenkt, gehen wir über die Krakowskie Przedmieście. Wer sich in Polen als Schwuler outet, heißt es, riskiert sein Leben. Zumindest sein soziales Leben, Respekt, Anerkennung. Küssen sich polnische Männer erst, wenn die Gardinen zugezogen sind?

Karol drückt ein Tor auf. Der Türsteher nickt. Wir sind im Club „Le Madame“. An den Seiten sind Separees, eingerichtet mit Secondhand-Couchgarnituren, ein Video wird an die Wand projiziert. Hier im Club gibt es Ausstellungen, Filmvorführungen, vor allem Partys. „Le Madame“ wird von einem schwulen Schwarzen geführt. „Nein“, sagt Karol und weist in den Raum, „Polen ist anders. Nicht wie Deutschland vor fünfzig Jahren.“ Er legt die Jacke ab, begrüßt Piotr und Ivo, die auf einem der Sofas lümmeln.

27 Jahre alt ist er, Künstler, gibt ein eigenes schwules Kunst- und Fotografiemagazin heraus: DIK Fagazine. Trotz Kaczyiński. Trotz Schwulenhass. „Das ist möglich“, sagt Karol.

Es ist später am Abend. Karol wiegt sich in einem anderen Club auf der Tanzfläche zum Elektrobeat. „Utopia“. Das Licht ist pinkfarben, die Gäste gestylt. Männer in hellen, legeren Klamotten, Frauen in Designerkleidern. Sie tanzen betont lässig, werfen Blicke, ob jemand sie taxiert. Einer tanzt auf dem Tresen. „ ‚Utopia‘ ist einer der angesagtesten Clubs Warschaus“, sagt Karol, der zur Bar zurückkommt. „Ein Schwulenclub. Frauen und Heteros sind zugelassen – aber nur, wenn der schwule Türsteher sie passieren lässt.“ Das „Utopia“ ist die Umkehrung all dessen, was in Polen als normal gilt. Schwule sind die Stars. Sie setzen die Trends. Sie bestimmen, wer dabei sein darf und wer nicht. „Manche von den Leuten hier haben Fotos ins Netz gestellt, auf denen sie wie Models posieren“, erzählt Karol. Man kann mit ihnen chatten und sie später im Club kennen lernen. „Es kann passieren, dass du mehr virtuelle Freunde hast als leibhaftige“, lacht Karol.

In Warschau zu leben kann für Männer wie Karol vieles heißen. Es kann bedeuten, eine Nacht lang im „Utopia“ zu tanzen. Dann ein Taxi nehmen. Ausschlafen. Es kann auch heißen, an einer Bushaltestelle zu warten und plötzlich einem Dutzend Männer in Trainingsanzügen gegenüberzustehen, die rufen: „Scheißschwuler! Wir machen dich alle!“ Als ihm das passiert ist, dachte Karol: „Jetzt erwischt es dich.“ Er betete, dass der Bus kommen möge. Der Bus kam.

Karol steht an die Bar gelehnt, im schlichten Kapuzenshirt. Er ist groß, er blickt über die Tanzenden hinweg. Alle paar Minuten grüßt er jemanden mit einem leichten Kopfnicken. Er hat viele Bekannte hier. Wer im „Utopia“- Universum einmal drin ist, braucht sich nicht jedes Mal zu stylen, als sei dies der wichtigste Tag seines Lebens. Karol grinst über das Getue. Mit DIK Fagazine ist er längst fester Bestandteil der Warschauer Schwulen- und Künstlerszene. Er ist selbstbewusst. Das war nicht immer so.

Als Karol vor sechs Jahren nach Warschau kam, war er ein schlaksiger Kerl aus der Provinz mit großen grauen Augen, langem Haar und einem Oberlippenbart. Er kam aus Białystok an der Grenze zu Weißrussland, dort hatte er ein Priesterseminar besucht, um katholischer Geistlicher zu werden. Damals. Bis er merkte, dass er sich verliebt hatte – in einen Mann, Andrzei *. „In den Priesterschulen entstehen viele homosexuelle Beziehungen“, erklärt er. „Das ist kein Klischee. Weil die Leute auf dem Land ihre Söhne ins Kloster schicken, wenn sie merken: Der Junge ist komisch und will nichts mit Frauen zu tun haben.“ Aber ein Priesterseminar sei kein Schwulenparadies, im Gegenteil. „Wenn deine Religion dir sagt, was du da fühlst, ist böse, fühlst du dich schuldig.“

Als Andrzei ernsthafte psychische Probleme bekam, verließ Karol das Seminar und schrieb sich in Warschau für bildende Kunst ein. Irrte in der Stadt herum. Suchte nach seiner Möglichkeit zu leben.

Karol spricht unbeirrt in Zimmerlautstärke, als habe er es nicht nötig, gegen die Musik anzubrüllen. „Es ist lebenswichtig, offen zu sein“, das weiß er mittlerweile. Denn er hat erfahren, dass es gelingen kann, die Homosexualität zum Teil des Daseins zu machen. So wie Beruf oder Familie Teile eines Lebens sind. Schließlich ist es keine Lappalie, ob man liebt, wen man liebt. Sex ist keine Nichtigkeit.

Am nächsten Morgen treffen wir Karol in seinem Atelier. Die Wintersonne fällt durch die Scheiben. Draußen sind die angegrauten Gründerzeithäuser Pragas zu sehen – das Warschauer Viertel wird als Geheimtipp der jungen Kulturszene gehandelt. Hier werden Industriehallen zu Künstlerhäusern. Karols Atelier liegt in der „Fabryka Trzciny“, einer früheren Gummiwarenfabrik. Auf dem Boden stehen Leinwände, Farben, Plastiken. Karol arbeitet jeden Tag, auch wenn er am Abend zuvor unterwegs war. Er ist fleißig. Und er ist ehrgeizig. Aus einem Regal holt er einen Stapel Zeitschriften, DIK Fagazine. Schwule Fotografie, wilde Comicstrips, Interviews mit Autoren und Künstlern sind auf silbergraues Papier gedruckt. Karol sammelt für jede Ausgabe Geld, er sucht Sponsoren oder schießt selbst etwas dazu. Das Magazin ist in Krakau, Berlin, London und Amsterdam erhältlich; auch dafür sorgt Karol, er hat ein Netzwerk geknüpft quer durch Europa.

DIK Fagazine zu gründen war eine Lebensentscheidung: sich nicht nur zur eigenen Homosexualität zu bekennen, sondern auch damit an die Öffentlichkeit zu gehen, sie herauszufordern. „Du hast schließlich einen Platz im Leben“, sagt er. „Auch wenn du um ihn kämpfen musst.“

In Polen Homosexualität zu thematisieren ist viel schwerer, als Karol zuvor dachte. Man kann in Warschau als Schwuler alles Mögliche tun. Man kann sich im „Utopia“ wie ein Filmstar fühlen. Man kann in die schillernde Schwulenszene eintauchen, die Besucher immer wieder überrascht. Auch schwule Sexclubs kann aufsuchen, wer will. Nur eines darf man nicht: darüber reden. Clubs wie das „Utopia“ oder „Le Madame“ sind nur ein Paralleluniversum, das den polnischen Alltag kaum berührt.

Natürlich hat Karol es seinen Eltern erzählt – „ich bin schwul“. Gut, jetzt wissen sie es. Aber sie sprechen nicht darüber. Mit ihrem Sohn nicht und auch mit sonst niemandem. Keiner würde das verstehen. So etwas geht schließlich nicht.

Als Karol für seinen Bekanntenkreis sein öffentliches Coming-out inszeniert hat, schlug das auf ganz andere Art fehl. Er hatte eine Ausstellung organisiert – schwule Fotografie – und die erste Ausgabe von DIK Fagazine auf den Tischen verteilt. Freunde, Bekannte und Kunstinteressierte waren gekommen, und Karol bekannte vor versammelter Mannschaft, homosexuell zu sein. Alle dachten: Das ist eine Performance, der Typ ist schließlich Künstler. Es dauerte beklemmend lange, bis sie endlich kapierten, dass Karol es ernst meinte.

„Der Deal in der polnischen Gesellschaft geht so“, sagt Karol: „Du kannst tun, was du willst, solange schweigst. Doch sobald du laut wirst, machen wir dich platt. Dies ist ein katholisches Land. Mit einer bigotten Tradition.“

Das Licht wird schon fahl, als wir am Nachmittag durch Praga gehen. Von den Häusern bröckelt der Putz. Graffiti sind an die Wände gesprüht. „Es gärt in Polen“, sagt er. „Nicht dass es früher weniger Schwule gab – oder dass man sie lieber mochte. Aber die Schwulen fangen an, den Deal zu brechen. Immer mehr bestehen darauf, offen schwul zu leben. Sich zu zeigen.“ DIK Fagazine ist ein kleiner Schritt, die Gayprideparades werden größer, von Mal zu Mal.

„Dass Schwule öffentlich auftreten wollen, ist viel mehr als nur ein moralisches Ärgernis“, sagt Karol und kickt einen Stein über den Asphalt. „Es ist ein Angriff auf die Religion und auf die Familie als Kitt der traditionellen polnischen Gesellschaft. Die Leute fühlen, dass das Land sich verändert. Das wollen sie nicht. Deshalb wehren sie sich. Instinktiv und mit Gewalt.“ Karol ist am Bushäuschen angekommen. Hier fährt die Linie aus Praga in die Innenstadt. Er kratzt mit dem Nagel an einem Bandplakat.

„Ich habe noch nie eine solche Gewalt gespürt wie bei der ersten verbotenen Gayprideparade vor zwei Jahren“, erzählt er. „Da war eine alte Frau, die warf Eier nach uns. Sie trug ein Mohairmützchen, genauso wie meine Großmutter. Ich fragte mich: Was tut die da? Und dann verstand ich: Sie bekämpft Satan.“

Als wir Karol das nächste Mal treffen, ist es Mai. In Praga blühen die Bäume. „Le Madame“ gibt es nicht mehr. Erst hat die Stadtverwaltung die Miete für den Club ins Unermessliche erhöht, dann hat sie ihn Ende April polizeilich räumen lassen. Er war zu laut, zu engagiert, zu anziehend.

Warum er nicht weggeht aus Warschau, fragen wir Karol. Nach Berlin, wie viele polnische Homosexuelle es tun? Karol schiebt die Hände tief in die Taschen und lächelt. „Ich mag Berlin“, sagt er „Aber das ist einfach zu leicht. Warschau mag ich lieber. Hier passiert etwas.“

* Name geändert