Deutschland kann siegen

Fußball-Schwellenländer sind an guten Tagen in der Lage, einen vermeintlich Großen zu schlagen. Das gilt auch für Deutschland. Der Fortschritt besteht darin, die Realität als Chance zu begreifen

Man könnte alles auch ein bisschen leichter haben. Zumal es im Prinzip ja gar nicht allzu viele Streitpunkte gibt.

Wir wissen, dass Deutschland heute mit einem Team in die WM startet, in dem nur Lehmann, Ballack und vielleicht Klose (abgesehen von Oliver Kahn) schon nachhaltig bewiesen haben, dass sie internationales Topniveau spielen können. Das ist wenig im Verhältnis zu Frankreich, Italien, Brasilien, England, Argentinien oder Holland.

Wir wissen außerdem, dass Jürgen Klinsmann mit Per Mertesacker, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski vermutlich viele sehr junge Spieler mit entsprechend wenig internationaler Erfahrung in der ersten Elf aufbieten wird. Wir wissen dazu, dass sich mit der deutschen Innenverteidigung ungeachtet wechselnder Besetzungen jener Mannschaftsteil am anfälligsten für Fehler erwiesen hat, dessen Aussetzer (jenseits von denen des Torhüters) am häufigsten zu Gegentoren führt. Und wir wissen, dass das mannschaftstaktische Verhalten des gesamten deutschen Teams seit Jahren nicht immer den Standards gerecht wird, die in der internationalen Spitze gepflegt werden. Zusammengefasst: Was die individuellen fußballspezifischen Qualitäten auf der einen Seite und die mannschaftstaktischen auf der anderen angeht, zählt das Team von Jürgen Klinsmann und Joachim Löw nicht zum engeren Favoritenkreis der WM 2006.

Das kann man sich nun als zusätzlichen Ballast auf die Schultern laden – beziehungsweise man bekommt es vom Boulevard dorthin gepackt. Das könnte man aber auch als Chance sehen.

Schon seit Jahren und völlig zu Recht gilt es ja als eine der signifikanten Entwicklungen des globalen Fußballspiels, dass sich der Abstand zwischen den Leistungspotenzialen der so genannten großen und kleinen Fußballnationen beträchtlich verringert hat. Was in der Praxis bedeutet: Viele dieser, nennen wir sie besser: Fußballschwellenländer sind an guten Tagen auch in der Lage, einen vermeintlich Großen zu schlagen.

Ein deutsches Wahrnehmungsproblem ist, dass man das in den vergangenen Jahren immer nur als Warnung gelesen hat. Und dass man es tendenziell auch weiterhin tut. Ein Fortschritt in Richtung einer realistischeren Einschätzung der bestehenden fußballerischen Kräfteverhältnisse wäre es dagegen, es als Chance zu begreifen. Selbstverständlich läuft das Klinsmann-Team aufgrund seiner Handicaps Gefahr, bei der WM auch gegen Gegner der zweiten Kategorie zu verlieren. Aber es kann eben auch gegen Teams der ersten Kategorie gewinnen. Zumindest, wenn vieles passt.

Und es passt mehr zusammen, als man das vor zwei Jahren unbedingt erwarten konnte. Vor allem weil erstmals seit dem deutschen WM-Aus 1998 in Frankreich und der nachfolgenden Episode mit Berti Vogts’ „ballorientierter Gegnerdeckung“ konsequent versucht wird, auf der nationalen Auswahlebene Konzeptfußball spielen zu lassen. Was als Überraschung gewertet werden darf. Schließlich war mit Klinsmann als Nachfolger von Rudi Völler erneut ein verdienter Spieler ins höchste deutsche Traineramt berufen worden. Wieder einer also ohne jede Erfahrung als Trainer und somit ohne Nachweise für die Befähigung, diese Position auszufüllen. Dazu kam mit Joachim Löw ein Co-Trainer, dessen Referenzen kaum eindrucksvoller waren, egal ob es um den Umfang seiner Trainererfahrungen ging, um die innovative Qualität dieser Arbeit oder die Erfolge, die er mit ihr hatte.

Ob das Konzept, das dieses Gespann ausgegeben hat, in seinen Details funktionieren kann, ist auch weiter diskutabel. So könnten Skeptiker es durchaus und mit einigem Anlass als Vabanquespiel kritisieren, eine international relativ unerfahrene und immer wieder zu Fehlern neigende Innenverteidigung möglichst oft möglichst nahe an die Mittellinie anrücken zu lassen, um die strategische Voraussetzung für ein funktionierendes Offensivpressing zu schaffen.

Aber entscheidend ist erst einmal etwas ganz anderes: dass solche Diskussionen im Rahmen eines Konzepts geführt werden können, dessen Konturen erkennbar sind. Das ist der erkennbare Fortschritt, der gemacht worden ist. Er muss verteidigt werden, wenn es ernst wird.

Heute ist das noch nicht. Heute wird das Fußball-Schwellenland Deutschland für Costa Rica ein übermächtiger Gegner sein. Aber die Kräfteverhältnisse werden sich verschieben, je länger das deutsche Team im Turnier bleibt. Aber eigentlich wissen wir das ja alle. Oder nicht?

ULRICH FUCHS gehört zum WM-Analyseteam der taz. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Fußballtheorie und -praxis