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Heute geschieht das Mysterium: Die Kugel rollt. In diesem magischen Augenblick vollzieht sich die große Wandlung. Die Wehen sind vorbei, das Kind ist auf der Welt: der neue Deutsche. Deshalb ist diesmal der Anfang wichtiger als das Ende

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

„Eminems Song ‚Lose yourself‘ trifft genau unsere Situation: ‚Look, if you had one shot, or one opportunity to seize everything you ever wanted – in one moment. Would you capture it or just let it slip?‘ Wir gehen auf etwas zu, die Chance kommt nie wieder, lass sie uns doch ergreifen. Wir können etwas Fantastisches erreichen.“

Jürgen Klinsmann, Bundestrainer, im Gespräch mit Spiegel Online

Genau sechs Jahre ist sie her, die Verkündigung der frohen Botschaft, dass Deutschland Gastgeber der Fußball-WM ist. Sechs Jahre! Ungeheure Ströme von Bier sind seither an den Stammtischen der Kundigen geflossen. Bundestrainer und -regierungen wurden ausgewechselt, Freunde sind gestorben, Haare ausgefallen und Kinder auf die Welt gekommen. Aber all das verblasst.

Heute ist D-Day, und jetzt wird deutlich, um was es bei der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland eigentlich geht. Sport? Geldverdienen? Die Konjunktur? Standortwerbung? Klar, auch. Aber das trifft nicht den Kern der Sache.

In Wirklichkeit erleben wir heute einen Moment von sakraler Bedeutung. Franz Beckenbauer sprach es gleich nach dem Juryentscheid der Fifa aus: Es handele sich um ein lebenseinmaliges, ein wunderbares und erhöhendes Ereignis. Nichts seien dagegen seine zwei als Spieler und Trainer errungenen WM-Titel. Von der ersten Minute der Gnadenwahl war klar, dass wir nunmehr auf geweihtem Boden leben.

Wer zwischenzeitlich dachte, „Wir sind Papst“ Benedikt in Köln sei der nicht mehr steigerbare Gipfel des Zusammengehens von kommerzialisiertem Volksfest und Inbrunst, wird nun eines Besseren belehrt. „Wir sind Gastgeber“ erweckt weitaus beseligendere Gefühle. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – das ist das Motto eines gigantischen, weltumspannenden Abendmahls. Bei dem jeder von uns auf seine Weise als Koch, Kellner und Hohepriester Verantwortung trägt. Dem können sich selbst ausgemachte Kritiker der Ballkunst nicht entziehen. Wie auch?

Das Fernsehen hält uns seit einem Jahr vor Augen, wie viele Tage wir noch im Zustand der Erwartung zu leben haben, in den Städten demonstrieren uns rückwärts laufende Uhren dasselbe auf Minute und Sekunde genau. Vor Bahnhöfen, Opernhäusern und in Flughafenterminals staunen wir riesenhafte Fußbälle an, in die man hineinkriechen und drinnen schaurig-wohlige Uterusgefühle erleben kann. Und alles ist auf den einen Augenblick ausgerichtet: den Anpfiff.

Heute, um 18 Uhr, geschieht das Mysterium: Die Kugel rollt. In diesem magischen Augenblick vollzieht sich die große Wandlung. Das ganze Potenzial an Erwartung entlädt sich, die Wehen sind vorbei, das Kind ist auf der Welt.

Der Anstoß ist viel mehr als der Beginn einer sorgfältig geplanten Großveranstaltung: Er ist der Geburtsakt des neuen Deutschlands. Wieder mal. Haben wir 1954 mit dem Wunder von Bern angeblich unsere Identität als Demokraten gefunden und 1990 in Rom die eigentliche Wiedervereinigung gefeiert, so steht 2006 unter dem Zeichen, der Welt zu demonstrieren, dass der hässliche Deutsche endgültig tot ist. Der Anstoß ist deshalb nicht nur ein Anfang, sondern auch ein Ende. Er ist zumal das Ende einer überlangen Schwangerschaft.

Jahrelang haben wir uns jetzt mit Klinsmann und der Mannschaft auf die Geburt des Neuen vorbereitet und dabei überraschende Veränderungen an uns erlebt. Zum ersten Mal in Länderspielen pfeifen wir bei Rückstand nicht gleich – wir machen uns und den Stellvertretern auf dem Rasen Mut.

Fußballdeutschland hat sich als kollektive Mutti entdeckt. Wir müssen den Jungs die Brust geben, sie päppeln und pampern, ihnen Luft zufächeln und gut zureden, nur so lässt sich das Ding schaukeln. Der Fan von früher – besoffen, fordernd und beleidigt, wenn es schief geht – ist out. Der neue Fan ist, wie der neue Deutsche, Anteilseigner am Erfolg: Shareholder und Mitverantwortlicher für das Gesamtgeschehen, ein seltsamer Wechselbalg aus Rechenhaftigkeit, gutem Willen und – Glauben. Fußball 2006 ist in Deutschland ein religiös getönter Großversuch in Selbststimulation.

„Wir müssen an uns glauben“, predigt der Bundestrainer – und tapfer versuchen wir’s. Die neue Gemeinschaft der Gläubigen erlebt das Fußballfest als profaniertes Heiligtum. Wir scharen uns um den Ball wie um den heiligen Gral und spüren dabei das Glücksgefühl der Vereinigung. Nicht nur mit uns – mit der Welt.

Natürlich wollen „wir“ Weltmeister werden. Aber zum ersten Mal ist das nicht die Frage, um die es eigentlich geht. Seit Monaten und Jahren leben wir nun mit dem Druck, uns und der Welt nicht nur Organisationstalent und die sattsam bekannten „deutschen Tugenden“ vorzuführen. Wir sollen, wir wollen uns als Gemeinschaft präsentieren, die von mehr und Tieferem bewegt wird als von kaltem Kalkül und schnödem Siegeswillen.

Im Jahr 2006 lädt der neue Deutsche zu Tisch. Deshalb ist diesmal der Anfang wichtiger als das Ende. Der Anstoß ist der designierte Explosionsort des guten Willens: eine Geburtsstunde wie weiland in Bethlehem.

In dem Moment, in dem der Schiedsrichter das Spiel freigibt, vollzieht sich nicht nur die Wandlung der lang aufgestauten Erwartung in die Realität eines Fußballfreudenfests. Mit dem ersten Ballkontakt beginnt die große Kommunion der Völker. Auf unserem heiligen Rasen.