Im Auge der Welle

Wie ein Stuttgarter Tüftler in letzter Minute eine Katastrophe bei der WM verhinderte

In der Woche vor Beginn der WM probten Freiwillige im Stadion den Ernstfall

Es hat mächtig gerumst. Bis vor die Stadiontore soll es zu hören gewesen sein, und wegen dieses Geräuschs hat Gregor Mansel nun eine Beule am Oberarm und vermutlich eine Rippenprellung. Trotzdem lächelt der 45-Jährige.

Der zweifache Vater ist einer jener Menschen, die dank ihrer sanften Beharrlichkeit eine Katastrophe verhindern. Gregor Mansels Heldengeschichte beginnt an einem Wochenende in Stuttgart-Zuffenhausen. Wie an jedem Samstag wäscht er die Mülltonne aus. Und sinniert, während er das Spülwasser in den Ausguss vor der Garage kippt, über die Fußball-Weltmeisterschaft nach. Er hat keine Karten bekommen, aber einen Englischkurs absolviert; er hofft, dass er als Einheimischer den Gästen aus aller Welt wird helfen können, den Weg zum Gottlieb-Daimler-Stadion oder gute Maultaschen zu finden. A swabian speciality. Vor seinen Augen dreht sich ein Strudel nunmehr klaren Wassers – im Uhrzeigersinn, beobachtet Mansel. Doch ihm fällt auch ein, dass dieses Phänomen nicht überall auf der Welt so zu sehen ist. Anderswo, erinnert er sich, bewegt sich der Strudel in die entgegengesetzte Richtung.

In Australien zum Beispiel. Dort würde Gregor Mansel zusehen, wie das Wasser linksherum abfließt. Und vermutlich staunen, denkt er sich. So, wie wohl auch die australischen Fußballfans in ihren Unterkünften perplex ins Waschbecken starren müssten, wenn sie sich zum ersten Mal in Stuttgart rasieren: Am 22. Juni spielt die australische Nationalmannschaft hier gegen Kroatien. Die Stadt wird voller rot-weiß karierter und gelb-grüner Fahnen sein. Und genau in diesem Augenblick durchfährt es ihn wie ein Blitz. Die Welle, denkt er. Die Welle am 22. Juni in Stuttgart.

Als VfB-Fan kennt er sie zwar nicht, aber als Hobby-Aquarellmaler kann sich Gregor Mansel ein genaues Bild davon machen, wie „La Ola“ in einem europäischen Fußballstadion aussieht: In einer Ecke der Tribüne strecken hunderte von Fans die Arme nach vorn; sie zählen einen Countdown und lassen dabei die Hände vibrieren; bei null reißen sie die Arme hoch – und nun ist jeder ihrer Sitznachbarn gefragt, es ihnen nachzutun; die menschliche Welle rollt über die Ränge. Und zwar gegen den Uhrzeigersinn. Mansel erstarrt. Wenn europäische Fußballfans die Welle in dieser Richtung inszenieren, weil sie es so gewohnt sind und ihr Mülltonnenwischwasser sich rechtsherum durch den Abfluss dreht, ist das Unglück vorprogrammiert: Die Anhänger der Australier werden sich genau entgegengesetzt bewegen.

Gregor Mansel fällt neben der Garage auf die Knie und simuliert seine eben gewonnene Erkenntnis auf einem Stück Rasen. Mit der linken und der rechten Hand beschreibt er einen Bogen über dem Grün und treibt Grashalme aufeinander zu. Am Ende blickt er auf eine furchtbare Verflechtung.

Gregor Mansel beschließt, zu handeln. Er spricht bei der Stadt vor, schreibt an die Fifa, das Organisationskomitee der WM und an überregionale Zeitungen. Überall wird er vertröstet. Schließlich findet er doch Gehör, in Kreisen der Polizei an einem Schafskopf-Abend. Ein Stammtischfreund versteht die Brisanz des Szenarios und gibt Mansels Überlegungen weiter.

Der Rest ist schnell erzählt und den meisten Medien bislang kaum mehr als eine kurze Nachricht wert gewesen: In der Woche vor Beginn der WM probten Freiwillige im Stuttgarter Gottlieb-Daimler-Stadion den Ernstfall. Angehörige der evangelischen Waldkirch-Gemeinde spielten Kroaten, Schüler des Thomas-Basgier-Gymnasiums übernahmen die Rollen der Australier. Gemeinsam zählte man den Countdown, um dann die Welle in verschiedene Richtungen zu starten.

Im Auge des Hurrikans, genau gegenüber, saß der Initiator dieser Übung. Von beiden Seiten des Stadions rauschte die Welle heran, traf sich in seiner Kurve – und Gregor Mansel fühlte sich tatsächlich wie ein leicht zu knickender Grashalm. Ellbogen trafen auf Schultern, Schultern auf Handgelenke, Handgelenke auf Hüftknochen – und über allem thronte das Grauen erregende Geräusch von aneinander schlagenden Fahrradhelmen. Ohne den vorab angeordneten Kopfschutz wären mindestens aufgeplatzte Augenbrauen, wahrscheinlicher aber schlimme Schädelbrüche zu versorgen gewesen, wie der Sanitätseinsatzleiter später erklären.

Gregor Mansel ist zufrieden nach seinem Einsatz. Er hat alles getan. Ein wenig verzieht er das Gesicht, weil die Rippen schmerzen. Doch zeitgleich fahren Kuriere mit dem Video der Wellen-Probe nach Kaiserslautern und München, wo ebenfalls Spiele mit australischer Beteiligung ausgetragen werden. Wenig später werden Handwerker Piktogramme auf die Stadionböden sprühen: zwei Handflächen und einen Pfeil, der nach links weist. Die Stadionsprecher lernen La-Ola-Hinweise in mehreren Sprachen. Man ist gewappnet.

Karten für die WM hat Gregor Mansel bis heute nicht. Aber er freut sich auf die australischen Wellensurfer bei der Weltmeisterschaft. CAROLA RÖNNEBURG