Mutter aller Wasser

In der Gran Sabena im Süden Venezuelas lassen sich nicht nur die Tepuis, Tafelberge, besteigen, sondern auch Abstecher zu Wasserfällen machen

VON MARKUS WILD

Zugegeben, ich war ein leichtes Opfer. Nach einer 15-stündigen Busfahrt von der venezolanischen Karibikküste gen Süden Richtung Santa Elèna de Uarien die Nacht hindurch war ich gerädert. Fünfmal war der Bus von Militärkontrollen angehalten worden, mein Schlaf entsprechend unruhig gewesen. Als wir Santa Elèna um sieben Uhr morgens erreichen, war ich gerade wieder eingenickt, sodass ich noch nicht einmal richtig in meine Schuhe geschlüpft war, als ich verschlafen über den Busbahnhof stolpere.

Und dann kam Francisco José Alvarez. Ob ich nicht in einer Stunde an einer ganz ungewöhnlichen Tour seiner Cooperativa Maurak Kon teilnehmen möchte? Ich versuchte meine Schuhe zuzubinden, aber Francisco rüttelte an meinem Arm. Amigo, an nur einem Tag die schönsten Kaskaden und Wasserfälle des Canaíma-Nationalparks erkunden? Keine dieser normalen Touristen-Exkursionen, sondern eine, bei der man viel laufen müsse und mehr sehen würde als gewöhnlich, die so genannte Tour „non tradicional“. Natürlich würde er mir einen Spezialpreis machen, wenn ich mich spontan entschied. Für nur 25 US-Dollar würde ich einen unvergesslichen Tag erleben; den anderen Touristen dürfte ich freilich nichts von dem Sonderpreis sagen.

Zugegeben, Francisco war ein Schlitzohr, aber auch ein einnehmender, sympathischer Typ. Außerdem musste ich schon am nächsten Tag weiter, weil in Brasilien eine Frau auf mich wartete. Und nicht zuletzt wollte ich Franciscos Wortschwall stoppen, mit dem er mich zu umgarnen versuchte. So sagte ich zu, und Francisco ließ mir nunmehr nur noch eine halbe Stunde Zeit, um mich im Hotel einzuchecken und tourfertig zu machen.

Brasilianischer Forró tönt aus mehreren Kneipen

30 Minuten später stehe ich vor dem Hotel, blinzle in die aufgehende Sonne – und warte, am Ende über anderthalb Stunden. Erst muss der Landrover in Schuss gebracht, dann der Reiseproviant eingekauft werden, und der sei sehr, sehr wichtig, betont unser Guide Ricardo immer wieder. Ich habe noch so viel Zeit, mich ein bisschen in Santa Elèna umzuschauen, einer Kleinstadt, der man die Nähe zu Brasilien anmerkt: Gleich aus mehreren Kneipen tönt Forró, der Country à la Brasil.

Irgendwann geht es dann doch los, und unser Führer Ricardo, ein Kolumbianer, der seit sieben Jahren in Santa Elèna de Uarien lebt, entpuppt sich als eine wirkliche Marke. Auf dem Kopf trägt er einen Cowboy-Schlapphut, in seinem Mundwinkel hängt ständig eine Fluppe, was ihn aber nicht davon abhält, uns ununterbrochen auf die Schönheiten der Roraima-Natur hinzuweisen. Dazu gestikuliert er wild, wippt mit dem Oberkörper rhythmisch zur Musik aus seiner Anlage im Wagen.

Tatsächlich ist die Landschaft der so genannten Gran Sabana, die wir mit dem Geländewagen durchqueren, beeindruckend: Um uns herum die karstige Hochebene Roraimas, am Horizont die mächtigen Tepuis, derentwegen die Gegend so berühmt ist. Diese Tepuis sind durch Erosion von Sandstein entstandene Tafelberge im Dreiländereck von Venezuela, Guyana und Brasilien. Sie bilden kein geschlossenes Bergmassiv, sondern thronen einzeln in der Landschaft. Typisch für die Tepuis ist, dass sie nach oben nicht spitz zulaufen, sondern in der Höhe mit einem Plateau abschließen. Viele der insgesamt 115 Tafelberge sind dennoch über 1.000 Meter hoch, der gewaltigste von ihnen, der Mount Roraima, misst sogar 2.810 Meter.

Schon ein Blick aus der Ferne lässt einen die mystische Kraft erahnen, welche die Ureinwohner den Tepuis zusprechen. Ricardo klärt uns auf: Die Tafelberge seien für die Pemón-Indianer die „Häuser der Götter“, und vor allem der Mount Roraima gelte als Heiligtum, denn hier wohne ihr Gott Macunaíma; in seiner Nähe werde nicht laut gesprochen, um die sanft schlafende „Mutter aller Wasser“ nicht zu stören. Nicht nur in den Schluchten und Spalten der Tepuis, sondern insbesondere auch auf den Hochplateaus, die zum Teil nur von der Luft aus zu erreichen seien, hätten sich durch die Millionen von Jahren dauernde Isolation von anderen Lebensformen viele endemische Arten entwickelt.

Doch für uns, die sich für die Tour „non tradicional“ entschieden haben, bleibt all das blanke Theorie, Anschauungsunterricht aus der Ferne. Denn wir sollen das zweite Naturwunder der Gran Sabena kennen lernen: die Wasserfälle. Dass es hier so viel Wasser gibt, ist erstaunlich, da es nur wenig regnet. Doch die unterirdischen Quellen speisen sich vom Orinoko und Rio Negro, jenen gewaltigen Flüssen, die die zwischen dem Amazonasbecken und dem Atlantik liegende Region einrahmen.

Unseren ersten Stopp machen wir am El Canyon. Vom Aussichtsspunkt „Ventana del cielo“, dem Himmelsfenster, genießen wir den Ausblick zu den Tepuis am Horizont und sehen, wie sich die Wassermassen vor uns in die Tiefe stürzen. Danach nehmen wir ein – ausgesprochen kühles – Bad im „Poso en la selva“. Keine Angst, beruhigt uns Ricardo, alle anderen Kaskaden seien deutlich wärmer. Und dann scheucht uns unser redseliger Guide auch schon weiter. Wir hätten schließlich noch ein „riesiges Programm“ vor uns.

Gar nicht mehr zu stoppen ist Ricardo, nachdem er uns den „Reiseproviant“ gezeigt hat: Der besteht neben einer Palette Dosenbier aus einer Flasche Rum, den „besten billigen“ Venezuelas, versichert uns Ricardo. Bei unserem ersten Zwischenstopp wollte er lediglich einen klitzekleinen Schluck Rum zu sich nehmen – und das auch nur aus Höflichkeit, weil einer der Touristen die Flasche geöffnet hatte.

Danach schenkt sich Ricardo dann regelmäßig selbst ein. Und mit dem Becher in der linken Hand über das unwegsame Gelände zu fahren ist wirklich eine Kunst; zumal er auch mit der rechten Hand schwer beschäftigt ist: Pausenlos sucht Ricardo nach neuen CDs, die er in Minutenabständen in seine Anlage einlegt, vornehmlich Klassiker der Rockgeschichte. Das sei noch richtige Musik, werden wir von Ricardo belehrt, damit würde er sich auskennen, denn er hätte als Rowdie in New York gearbeitet, als Bruce Springsteen dort noch in kleinen Kaschemmen aufgetreten sei. So werden die Rolling Stones und Janis Joplin zum Soundtrack unserer Roraima-Erkundung.

Auf dem Boden krauchend durch den „Vorhang“

Wir halten noch bei den Kaskaden „Quebrada de Jaspe“ sowie am Wasserbecken des „Balniaro Suruape“, beide Male nehmen wir ein kurzes Bad im lauschigen Süßwasser. Alles ganz schön, aber das soll es gewesen sein? Doch Ricardos Gespür für Dramaturgie sei Dank: Er hat sich den Höhepunkt der Tour bis zum Schluss aufgehoben: den Wasserfall Salto Arapena Merú, bekannter aber unter dem Namen La Cortina, der Vorhang.

Nur mit Socken und einer Badehose bekleidet wagen wir den Abstieg zum Wasserfall, wo wir uns an den Händen anfassend auf dem Boden krauchend durch das herabstürzende Nass kämpfen. 20 Minuten später stehen wir stolz am Fuße des Wasserfalls, wo wir angesichts des Geräuschpegels per Handzeichen miteinander kommunizieren. Zum Schluss stelle ich mich unter den Wasserfall und gönne mir eine natürliche Rückenmassage. Dann sehe ich, wie Ricardo vor mir herumgestikuliert und mit dem Finger auf seine Uhr zeigt. Schon vorbei, der Spaß.

Zugegeben: So ungewöhnlich wie versprochen war die Tour „non tradicional“ nun auch nicht. Die meiste Zeit haben wir im Geländewagen verbracht, und die versprochenen Anstrengungen hielten sich in Grenzen. Trotzdem hat sich der Ausflug gelohnt und als wir in der Abenddämmerung nach Santa Elèna zurückkehren, schaffe ich es gerade noch, mich bei Ricardo zu bedanken. Dann muss ich ins Bett, wo ich sofort selig entschlummere. Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich immer noch ein Geräusch im Ohr: Wasserrauschen.