: Lewwer duad üs Slaav
REGIONALLITERATUR Identität stiftende – oder wieder belebende – Balladen und Romane über unbeugsame Norddeutsche wie Pidder Lüng haben Konjunktur. Und für Zugereiste sind es wichtige Informationen über Wohl und Wehe der vorgefundenen Einheimischen
VON PETRA SCHELLEN
Erinnern Sie sich noch an Pidder Lüng? Den Fischer, der den Zehnten nicht zahlen wollte und den Amtmann daraufhin im heißen Grünkohltopf erstickte? Gut ist es nicht ausgegangen damals, denn sie haben Lüng trotzdem geschnappt und umgebracht, aber noch im Tod soll er „Lewwer duad üs Slaav!“ gerufen haben, lieber tot als Sklave.
Das klingt fast wie die Legende von Klaus Störtebeker, der sich, nachdem man ihn zum Tode verurteilt hatte, ausbedang, dass so viele Mitstreiter gerettet würden, wie er ohne Kopf würde passieren können. Sein Rumpf schaffte einige, aber ob seine Hamburger Henker Wort hielten, ist nicht überliefert.
Wenn man jetzt noch bedenkt, dass der Störtebeker-Schädel – der nach einem mysteriös-unprofessionellen Diebstahl jetzt wieder im Museum für Hamburgische Geschichte weilt – vielleicht nicht der echte ist, kommt man in etwa in jener Realitätssphäre an, in der sich auch die Lüng-Geschichte bewegt: im Bereich der Legende, der Mythen – kurz: dessen, was für Identität, auch regionale, über Generationen wichtig ist.
Überliefert wurden Balladen wie die von Pidder Lüng lange Zeit mündlich, schön gereimt gesungen meist, und das ist eine eigentlich recht zuverlässige Methode: Nicht nur, dass Versmaß und Reim beim Memorieren helfen; die feste Form macht auch Abweichungen schwer, sodass weit weniger vergessen oder verfälscht werden kann, als wenn jemand den Text mechanisch, vielleicht unkonzentriert abschreibt.
Natürlich sind norddeutsche Balladen und andere Gesänge trotzdem aufgeschrieben worden und zum Beispiel in dem neuen Bändchen „Heut bin ich über Rungholt gefahren“ versammelt. „Die schönsten Balladen aus Nord- und Ostfriesland“ hießt das von Helga Ramge edierte Büchlein, und da ist viel von Mühsal der mit Einsamkeit – zum Beispiel auf der Hallig – und Naturgewalten die Rede: Detlef Liliencrons „Trutz, blanke Hans“ ist da natürlich vertreten, „Aus Sturmes Not“ von Julius Wol, „Der Tod in den Dünen“ von Wilhelm Lobsien, „Frauke von Borkum“ von Georg Ruseler. „Een Boot is noch buten“ von Arno Holz klingt nur im Titel platt, und überhaupt sind alle Texte brav hochdeutsch geschrieben.
Nach der Lektüre des Bändchens ist auch der Zugereiste der wichtigsten Regionallegenden kundig – ganz abgesehen davon, dass es auch auf den zugehörigen Zeichnungen gewaltig braust und tost. Denn das Sich-Behaupten gegen die stetig bedrohliche Natur – insbesondere das Meer – ist dieser Landschaft und ihren Menschen eingefräst.
Deshalb ist es nicht überraschend, dass auch in der Prosa des 19. Jahrhunderts, die der Literaturwissenschaftler Arno Bammé und das Nordfriesische Institut in den letzten Jahren konzentriert neu herausgegeben haben, oft starke, unbeugsame Frauen zu finden sind.
Margarete Böhmes „Sarah von Lindholm“ ist allerdings von der Husumer Theatergruppe „5plus1“ neu ediert worden. Und abgesehen davon, dass sich – bis in den langsamen Erzählrhythmus hinein angenehmes – Lokalkolorit findet, transportiert der Roman auch handfest sozialreformerische Ideen.
Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die Autorin, 1867 in Husum geboren und 1939 in Hamburg gestorben, selbst keine Duckmäuserin war: Mit 17 veröffentlichte sie ihre erste Erzählung, schrieb Erzählungen und Fortsetzungsromane für Husumer Zeitungen und konnte später sogar vom Romanschreiben leben.
Den Durchbruch brachte das „Tagebuch einer Verlorenen“, das 1905 erschien und vom Abstieg eines jungen Mädchens in die Prostitution handelt. Ganz so drastisch ergeht es der Protagonistin von „Sarah Lindholm“ nicht. Aber auch ihr, der Chefin einer Werft an der schleswig-holsteinischen Westküste, geht es um die zu kurz Gekommenen: Gegen viele Widerstände des männerdominierten Gewerbes setzt sie den Bau einer Kolonie für die Arbeiter durch, die Werkswohnungen, Kulturzentrum und Geschäfte enthält.
Der Roman „Die Frauen von Volderwiek“ von Friederike Henriette Kraze (1870 bis 1936) ist um einige Nuancen sanfter, verhandelt aber gleichfalls weibliche Lebensentwürfe. Er erzählt vom Schicksal dreier Mädchen auf Eiderstedt, die verschiedene Varianten damals denkbarer Frauenschicksale durchdeklinieren und die Jahrhundertwende auch diesbezüglich als Scharnier begreifen: Zwischen dem Verweilen im elterlichen Haushalt nach erfolgloser Partnersuche, dem Lehrerinnendasein und der Idee, Philosophie zu studieren, changieren die Optionen.
Kraze hat in ihren Romanen und Erzählungen, von denen sie – einst Erzieherin – leben konnte, aber nicht nur soziale Probleme durchleuchtet. Ihr wichtigster Roman „Die magischen Wälder“, 1933 unter dem Pseudonym „Heinz Gumprecht“ erschienen, erzählt von deutschen Kriegsgefangen im Ersten Weltkrieg in Sibirien.
Helga Ramge: Heut bin ich über Rungholt gefahren. Die schönsten Balladen aus Nord- und Ostfriesland, Husum Verlag 2013, 112 S., 6,95 Euro
Margarete Böhme: Sarah von Lindholm, Husum Verlag 2012, 312 S., 12,95 Euro
Friederike H. Kraze: Die Frauen von Volderwiek, Husum Verlag 2013, 140 S., 7,95 Euro
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