Alles, was Hartgesottene aufrechterhält

Die Stuttgarter verstehen – entgegen vieler Vorurteile – durchaus zu feiern, unterstützt von regional verkosteten Weinen und anderen Spezialitäten. Einige Stationen der schwäbischen Fan-Leit-Kultur zur WM, nicht nur zwischen Hauptbahnhof, Königsstraße und Schlossplatz

Manchmal ist sogar der schwäbische Ur-Muffin auf der Speisekarte zu finden: „Pfitzauf“ heißt der hier

VON UTE SPRINGER

„Morgens ein Nebelmeer, mittags ein Häusermeer, abends ein Lichtermeer und nachts Garnichtsmeer“ (Volksmund)

Welche Generation auch immer diese Zeilen prägte: sie sind von gestern. Ein zünftiges „Feschdle“ weiß man in Stuttgart allemal zu feiern, ganz besonders gilt das für die Zeit der Fußball-WM. Die Stadt hat sich herausgeputzt, allüberall ist die WM gegenwärtig. Der Schwabe ist im Grunde seines Herzens ein sehr geselliger Mensch, der gerne feiert – vorausgesetzt, der Vorrat an Trollinger, wahlweise Trollinger-Lemberger oder Riesling, notfalls Weizenbier, ist gesichert. Für Massen-Nachschub sorgt deshalb während der gesamten Weltmeisterschaft auf dem Schillerplatz neben der Stiftskirche, das „traditionell-gemütliche Stuttgarter Weindorf“. Am Hauptbahnhof angekommen, ist es bis dorthin etwa ein Kilometer schnurstracks die Königsstraße entlang – letzte Chance, sich in der Einkaufspassage mit Fanartikeln einzudecken. Dreh- und Angelpunkt des WM-Geschehens ist der Schlossplatz mitten in der Fußgängerzone.

Genau wie Sportler sollten auch Fans nicht ohne entsprechende Trainingseinheiten ins Spiel starten. Die hier vorgestellten Stationen entsprechen der schwäbischen Fan-Leit-Kultur und können in beliebiger Reihenfolge und Anzahl absolviert werden.

Am besten sind Leibesübungen bekanntermaßen an der frischen Luft. Die ist zwar im Stuttgarter Talkessel an diesigen Tagen eher rar, zum Glück gibt es aber einige Parks und reichlich Grünflächen in und um Stuttgart herum. Der Höhenpark „Killesberg“ und der „Rosensteinpark“ mit der angrenzenden „Wilhelma“, dem zoologisch-botanischen Garten aus Kaisers Zeiten, bieten sich an, das Zusammenspiel von Fan-Gruppen in der Öffentlichkeit zu üben. Das Gelände um die „Villa Berg“ dient anschließend dem zusätzlichen Konditionstraining. Zum Stärken der Psyche empfiehlt sich das Naturkundemuseum „Schloss Rosenstein“: Aug’ in Aug’ mit Mammut, Säbelzahntiger und T-Rex schmilzt die Angst vor der Niederlage dahin wie das Eis nach dem Pleistozän.

Nicht nur mentale, sondern auch rein physische Höhen zu erreichen ist die nächste Aufgabe. Deshalb dürfen die Besteigung der Karlshöhe und der Uhlandshöhe nicht fehlen. Letztere bietet nicht nur lauschige Plätzchen zum Vorglühen, sondern nächtens auch die Möglichkeit, einen (Teleskop-)Blick in die Sterne zu riskieren. Den endgültigen Überblick allerdings verschafft erst der Fernsehturm in Degerloch.

Der Tag ist auf jeden Fall mit einer frischen Brezel zu beginnen. Solche mit knusprigem Mittelkreuz, nicht die mit den dicken Teigwürsten. Und mit Butter, bloß keine Margarine! Die heimische Speisekarte bietet herzhaft-würzige Kost – eben alles, was hartgesottene Fans aufrecht hält. Zwiebelrostbraten zum Beispiel, meist mit Kartoffelsalat serviert (Schwäbischem! Ohne Mayo!). Oder Kasseler mit Filderkraut, oder gleich die ganze Schlachtplatte. Maultaschen, Spätzle und Schupfnudeln geben selbst Vegetariern Gelegenheit, ordentlich reinzuhauen. Manchmal ist sogar der schwäbische Ur-Muffin auf der Speisekarte zu finden: „Pfitzauf“ heißt der hier, wahlweise herzhaft zur Substitution von Kartoffeln oder süß als Nachtisch.

Lokales Biergebräu ist bis auf Rothäuser „Tannenzäpfle“ nicht wirklich zu empfehlen, anders sieht’s mit Wein aus. Einige Sorten gelangen nie in den überregionalen Handel oder die gehobene Gastronomie: Die trinken hier alles selbst. Manche Winzer kredenzen nicht nur Weine, sondern auch ganz hervorragenden Sekt. Zu kriegen ist der oft nur vor Ort bei den Winzergenossenschaften oder im Direktverkauf des Weingutes. „Kamm’r do au draußa hocka?“, lautet eine häufige Frage der naturverbundenen Einheimischen im Zusammenhang mit sommerlicher Nahrungsaufnahme. Man kann. Ganz besonders zu empfehlen ist die Waldebene Ost, dort sind mit „Onkel Otto“ und der „Friedrichsruh“ gleich zwei besonders schöne Lokalitäten zu finden. Auch einige Gaststätten haben Außenrestauration, ein großer Biergarten ist dagegen im mittleren Schlossgarten, schräg hinter dem Hauptbahnhof, zu finden – übrigens ein idealer Ausgangspunkt für den Schlussspurt zu den Leinwänden auf dem Schlossplatz.

Diesmal nicht über die Königsstraße in Richtung Schlossplatz, sondern vom Bahnhof aus durch den Park über eine Fußgängerbrücke, die vom Mittleren in den Oberen Schlossgarten führt. Dort, vor dem Staatstheater, ist der Eckensee, jetzt „See-Arena in Form einer über dem See schwebenden Brücke“. 1.000 Quadratmeter Kunstrasen, Bandenwerbung und Tribünen sind dort im „stilisierten Stadion“ zu finden – letzte Sitzmöglichkeit vor dem Spiel! Oder noch mal aufwärmen an der Torwand, möglicherweise heizt ja der Besuch des Informationszentrums die Stimmung so richtig an: Dort sind TV-Interviews mit Fußballgrößen von gestern und heute zu sehen.

Auf zum Schlossplatz! Gleich drei Videoleinwände werden dort an der Jubiläumssäule und im Ehrenhof des Neuen Schlosses (60 x 60 Meter – Projektionsfläche!) für beste Sicht aufs Spiel sorgen. Hier werden zumindest an den sechs Stuttgarter Spieltagen rund 80.000 Menschen erwartet. Wer näher am Stadion dran sein will, fährt zur Großbildleinwand auf dem Cannstatter Marktplatz – mit ein bisschen Glück ist sogar der Stadionsprecher live zu hören.

In der Kneipe feiern? Auch gut, derer gibt es einige, sowohl in der Innenstadt (Schlesinger!) als auch in den verschiedenen Stadtteilen. Dort sind in kleinen Spelunken dann die Alt-Herren-Mannschaften der zahlreichen Stuttgarter Fußballvereine anzutreffen. Bei Sichtung eines Sportplatzes unbedingt die nächstgelegene Kneipe oder das Vereinsheim aufsuchen!

Ob Trauer oder Freude nach dem Spiel: Es muss begossen werden. Hierzu eignen sich das Bermuda-Dreieck Wilhelmsplatz oder die Schickimicki-Flaniermeile in der Theodor-Heuss-Straße. Auch rund um den Hans-im-Glück-Brunnen in der Geißstraße gibt es Kneipen, in denen sich trefflich über Abseitsfallen, Schwalben und Gelbe Karten schwadronieren lässt.

Wohin mit dem müden Haupt? Sollte wider Erwarten auch über die Zimmer-Buchungs-Hotline in Stuttgart keine freie Matratze mehr zu finden sein, bleibt nur noch das Umland: Esslingen, Waiblingen, Schorndorf, Ludwigsburg und Marbach sind problemlos mit der S-Bahn zu erreichen. Wird es auch hier knapp, lohnt es sich, im Bottwartal zu suchen. Zwischen Marbach und Beilstein gibt es in jedem Ort Gasthöfe mit Fremdenzimmern – und oftmals ganz hervorragendem Essen. Und jetzt bitte von vorn …