WALTRAUD SCHWAB GEMÜSE IST MEINE WURST
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Thomas heißt er, ist Bauer und Anarchist. Was er zuerst war, bleibt unklar. Ich glaube, Anarchist, obwohl es in der DDR, wo er wohnte, schwer war, als Landwirt etwas anderes zu wollen als die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft LPG. Deshalb kamen Kartoffeln vor Tomaten, Kohl vor Pastinaken. Planerfüllung vor Sehnsucht. Aber ein guter Anarchist hungert vom Wesen her nach mehr. Deshalb ließ sich Thomas, langhaarig, blond, wortkarg, das Träumen nicht nehmen.

Ich habe ihn erst ein paar Jahre nach der Wende kennen gelernt, da war er endlich anarchistischer Landwirt, bio, radikal, nur der Erde treu, und lieferte seine Gemüsekisten an Westberliner Wohngemeinschaften. Sie unterstützten ihn, denn Thomas baut nur Gemüse an, das sich mit der Region, dem Boden und dem Klima verträgt. Und er bewässert die Felder nicht künstlich.

Bescheiden stand Thomas mit seiner Kiste vor der Tür zur WG, in der ich damals lebte, und wartete, dass man ihn bezahlte. Wie geht es? „Gut.“ Wächst alles? Er zuckt mit den Schultern, sagt: „zu wenig Regen“. Oder: „zu kalt“, „zu heiß“ „zu trocken“, „zu nass“. Er steckte seine zehn Mark ein und ging dann zu Treffen von Anarchisten. Woche für Woche.

Irgendwann bin ich der WG untreu geworden. Aber Thomas bringt mir die Kiste immer noch. Frühmorgens, sehr früh morgens, so früh, dass konspirative Treffen unwahrscheinlich sind, denn denen gehört die Nacht.

In der Kiste waren: 1 kg Kartoffeln, 1 kg Kürbis, 1 kg Birnen, 1,5 kg Äpfel, 300 Gramm Walnüsse, 400 Gramm Quitte, 1 kg Möhren, 1 Bund Petersilie

Den Kürbis habe ich noch, die Birnen auch, denn sie sind hart. Die Äpfel schmecken mäßig, aber diese Quitte, die habe ich eineinhalb Stunden in Zuckersud mit drei Nelken gekocht und dann warm mit Sahne gegessen. Eine süßere Anarchie ist undenkbar.

Hier besprechen wir abwechselnd Würste und bedienen uns aus der winterlichen Gemüsekiste