: Das Alles der Liebe
KINO Ungebremst: „Blau ist eine warme Farbe“ von Abdellatif Kechiche
VON BIRGIT GLOMBITZA
Der Kopf drückt mit ganzer Schwere gegen das Seitenfenster. Die Lider liegen wie kleine Fransenteppiche über den Augen, hinter denen die Träumende etwas so Aufregendes zu imaginieren scheint, dass ihr Gesicht den Glanz sehr privaten Glücks angenommen hat. Die Welt draußen zieht vorbei. Nichts ahnend von den Eskapaden in den Fantasien der 15-jährigen Adèle, die zurück im Wachzustand selbst von der Klarheit und Wucht ihres noch geheim gehaltenen Begehrens überrascht ist.
Es sind diese scheinbar unverstellten, intimen Momente, von denen man nicht die Augen lassen mag. Eigentlich abgewandelte Vermeer-Sujets, Frauen am Fenster, Botschaften aus einer anderen Welt als der der eigenen Enge lesend. Nur wählt Abddelatif Kechiche, der Regisseur von „Couscous mit Fisch“, grundsätzlich einen engeren Ausschnitt. Nahe, Halbnahe, selten etwas Weiteres, was die Kontextualität des alltäglichen, sozialen Lebens zu sehr mit ins Spiel bringen könnte. Immerhin sind wir beim Französischunterricht dabei und einer leidenschaftlichen Einführung in Pierre Carlet de Marivauxs „La Vie de Marianne“ und seiner Utopie von klassenüberschreitender Liebe.
In seinem mit der Goldenen Palme ausgezeichnetem „La Vie d’Adèle“ – „Blau ist eine warme Farbe“, wie er, den Gruß an Marivaux ignorierend, im Deutschen heißt – schafft Kechiche ein aufregendes Amalgam aus weiblicher Entrückung und ungefiltertem Begehren. Er erzählt die Geschichte der jungen Adèle, die wie im klassischen Bildungsroman versucht, durch die Irrungen und Wirrungen ihrer Gefühlswelt zu navigieren. Adèle ist schön, klug und ungeheuer sinnlich. Wenn sie isst oder liebt, gibt es nichts anderes auf der Welt. Sie hat viele Freunde, wird gar vom hübschesten Kerl ihrer Schule begehrt und versucht es auch erst mit diesem Junge-Mädchen-Spiel aus impulshafter Annäherung und künstlichen Verzögerungen.
Hinreißende Zahnlücke
Doch in der Fußgängerzone hat sie etwas gesehen. Emma heißt sie, mit hinreißender Zahnlücke, blassem Gesicht, umwölkt von quietschblau gefärbten Wuschelhaaren. Als sie Emma zum ersten Mal sieht, hält die gerade eine andere umschlungen, lachend, plaudernd, als gehöre das Kopfsteinpflaster von Lille nur diesem Paar. Adèle sucht und findet Emma in einer Lesbenkneipe und macht mit ihrer Mischung aus Fremdeln und Neugier die Kunststudentin auf sich aufmerksam. Irgendwann steht Emma tatsächlich vor Adèles Schule, sie reden sehr ernst über Sartre und Marivaux. Über das Nichts der Existenz und das Alles der Liebe. Und wenn sie sich endlich in den Armen liegen, ist es, als bezögen sie die Lust nicht nur als adoleszenten Abenteurspielplatz, sondern als einzig akzeptablen Kompromiss mit dem Tod.
Die schlafende Adèle des Anfangs hat Kechiche gedreht, als ihre Darstellerin nichts davon wusste. Adèle Exarchopoulos ist in diesem Moment „Adèle“ (und umgekehrt) und der Regisseur ein Bilderdieb. Dass die Realität an solchen Scharnieren in die Erzählung klappt, Kechiche das eine im anderen mit der Kamera erforschen, auch beherrschen will, ist, wenn überhaupt, der einzige zwiespältige Voyeurismus in einem Film, der anatomisch alles zeigt, ausführlich sogar und immer wieder.
Doch die Frauenkörper scheinen hier nicht für den männlichen Blick drapiert. Ihre ungeschminkte Haut hat Flecken, Poren, Pickel. Es klatscht, wenn die eine auf den Schenkel der anderen schlägt. Emma und Adèle dürfen geil sein, egal wie ihr Gesicht sich dann verschiebt oder welcher Brummton ihnen aus der Kehle steigt. Es geht um Sex – und zwar den mit Liebe. Und die kennt kein Geschlecht, wie ein Bohemeschnösel einmal über den Rand seines Longdrinks der Welt erklärt. Und wenn man sich vorstellt, wie die ungebremste Sinnlichkeit der Protagonistinnen in diesem Cannes-Sieger über ein Frankreich hereinbrechen muss, dessen Wutbürger gegen die Homo-Ehe auf die Straße gehen, bildet das sicher nicht die unbedeutendste Pointe.
Adèle und Emma durchleben die üblichen dramaturgischen Schleifen eines jeden Paares. Die eine nimmt, die andere gibt mehr. Es kommt, wie es kommen muss. Eine dumme Affäre, Eifersucht, Streit. Nichts Besonderes und doch berührend. Dank der umwerfend guten Schauspielerinnen kann man von Bild zu Bild zusehen, wie die Magie zwischen den beiden entsteht. Und auch, wie sie zerfällt.
Falltüren der Schaulust
Kechiche stellt die Frauen nicht aus. Allerdings mag man sich auch nicht ausmalen, was mit weniger souveränen Miminnen wohl geschehen wäre. Mit Akteurinnen, die nicht so ein glänzendes Gespür wie Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux für die Falltüren von Schaulust und Erotik hin zu Kitsch und platter Männerfantasie besitzen. Manches wirkt eine Spur zu langwierig, wie der x-te Stellungswechsel, manches, wie Adèles stets geöffneter Mund, zu redundant. Glücklicherweise ist manches auch nicht zu ernst zu nehmen. Wie der Bohemejüngling und sein Gefasel vom Mysterium des weiblichen Orgasmus.
So bleibt „La Vie d’Adèle“ trotz seiner Schwächen ein großer Liebesfilm. Mit allem Schmacht, Ach und Weh. Und einer wundervollen Sinnlichkeit.
■ „Blau ist eine warme Farbe“. Regie: Abdellatif Kechiche. Mit Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux u. a., F/B/E 2013, 179 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen