Die Prothese läuft mit

Beinamputierte müssen auf sportliche Aktivitäten nicht verzichten: Nordic Walking entwickelt sich zum Breitensport. Auch ehemalige Leistungssportler sind aktiv. Paralympics sind das nächste Ziel

„Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie es vorher war“, sagt Margarete Klein

AUS MEERBUSCH LUTZ DEBUS

Auf der Bezirkssportanlage in Meerbusch-Lank, westlich von Düsseldorf gelegen, organisiert ein örtliches Sanitätshaus eine Informationsveranstaltung. Das Thema: Nordic Walking für Beinamputierte. Trainer Rudi Ziegeler begrüßt mit forschem Ton eine der etwa 20 Interessierten: „Was wollen Sie denn mit dem?“ Gemeint ist der ständige Begleiter der Rentnerin, ein Rollator. Auf die Gehhilfe mit den vier Rollen, so erwidert die Dame, könne und wolle sie nicht verzichten. Wie, fragt daraufhin Ziegeler, solle man Nordic Walking machen, wenn beide Hände sich an dem Rollator festhalten? Charmant und geduldig erklärt er dann der etwas ängstlichen Frau die ersten Schritte mit den schwarzen Stöcken. Diese quittiert ihre ersten selbstständigen Schritte seit langem mit einem zarten Lächeln.

Die Besucher des Vormittags sind bunt zusammengewürfelt. Der Jüngste mit seinen knapp 12 Jahren ist Lukas. Von Geburt an fehlen ihm beide Beine. Trotzdem ist er ein erfolgreicher Sportler. Im Sitzvolleyball kann er so manchen Gleichaltrigen mit zwei Beinen besiegen. Nun möchte er einen neuen Sport ausprobieren. Am Nordic Walking reizt ihn, besonders da seine Leistung zeigen zu können, wo ihn andere als behindert ansehen. Auf der Aschebahn hat er inzwischen alle anderen abgehängt – obwohl er mit zwei Prothesen unterwegs ist.

Dicht hinter ihm läuft Margarete Klein. Über 70 Jahre sei sie alt, erzählt sie, ohne dabei außer Atem zu sein. Sichtlich stolz berichtet sie, dass sie früher erfolgreiche Fünfkämpferin war und schon zehn Sportabzeichen in Gold gewonnen hat. Aber in ihrem Alter suche sie einen etwas ruhigeren Sport als das Kugelstoßen und das Speerwerfen. Kurz schaut sie zurück auf die Läufer hinter ihr. Das Mittelfeld ist bereits weit abgeschlagen. „Ich bin froh, dass mir das so früh passiert ist. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie es vorher war.“ Mit 16 Jahren, so berichtet die Walkerin, habe sie einen Unfall gehabt. „Eine Straßenbahn in Düsseldorf-Oberkassel“, ergänzt sie knapp. Vier Jahre habe sie im Krankenhaus verbracht. Nach der Entlassungmanche begann sie sofort, Sport zu treiben. Der Sport habe ihrem Leben einen neuen Inhalt gegeben.

Tatsächlich, sagt Angelika Pricken, eine der Organisatorinnen der Veranstaltung, falle es vielen Frischamputierten schwer, sich an ein Leben mit Prothese zu gewöhnen. Das Sanitätshaus, in dem sie arbeitet, betreibt im Lukaskrankenhaus in Neuss eine Werkstatt. Krücken und Rollatoren, so ihre Beobachtung, würden Patienten nicht nur physisch stützen. Das Selbstvertrauen sei nach einer Beinamputation bei vielen weg. Die Angst vor dem Fallen könne man auch als Metapher verstehen.

„Inzwischen gibt es computergesteuerte Gelenke, die die Bewegungsabläufe eines gesunden Beines fast exakt nachvollziehen können“, sagt Pricken. Mit diesen „Rolls Royce“ unter den Prothesen könne man mit etwas Übung sehr gut gehen. Manch älterer Patient aber traue sich mit diesem Material trotzdem nur hinkend auf Krücken zu bewegen. Hier könne das Walking helfen. Die federleichten Stöcke aus Karbon nehmen 30 Prozent des Körpergewichtes. Mit den Stöcken verliere man nicht so schnell das Gleichgewicht. Trotzdem erkennen Passanten darin nur ein Sportgerät. Kein äußeres Zeichen deutet auf eine Behinderung hin.

Rudi Ziegler, der in Bayreuth eine spezielle Nordic-Walking-Schule für Beinamputierte betreibt und mit seiner Gruppe inzwischen einige Male den Sportplatz umrundet hat, berichtet von seinen ehrgeizigen Plänen. Bereits jetzt veranstaltet er Marathonläufe und Skifreizeiten für seine Kunden. Mit dem Olympischen Komitee steht er in Verhandlung. Sein Ziel: Nordic Walking als paralympische Disziplin. Margarete Klein und Lukas hören ihm interessiert zu. Die anderen Besucher der Veranstaltung haben keine Ambitionen in Richtung Leistungssport, wollen aber zumindest regelmäßig zu einem Lauftreff für Beinamputierte nach Meerbusch kommen. An der Kaffeetafel unter freiem Himmel wird geredet und gelacht. Und am Spielfeldrand steht einsam ein Rollator.