„Die Kinder brauchen Rechte“

Die Expertin Beatrice Hungerland erklärt, warum Kinderarbeit reguliert werden sollte

taz: Frau Hungerland, die IAO geht davon aus, dass Kinderarbeit weltweit abnimmt. Glauben Sie das?

Beatrice Hungerland: Ich habe große Zweifel. In Ländern, wo Menschen in großer Armut leben, geht es oft gar nicht anders, als dass die Kinder mitarbeiten. Es hat sich gezeigt, dass das Kinderarbeitsverbot oft dazu führt, dass sich die Arbeit in unsichtbarere Bereiche verlagert, wo die Bedingungen oft noch schlechter sind. Manche Mädchen arbeiten in privaten Haushalten – auch in der eigenen Familie – unter sklavenähnlichen Bedingungen – aber das bekommt außen fast niemand mit.

Hat das Arbeitsverbot der IAO denn dann überhaupt Sinn?

Ich vertrete die Ansicht, dass die Arbeit von Kindern nicht pauschal bekämpft, sondern reguliert werden sollte. Auch Kinder sollten bestimmte ArbeitnehmerInnenrechte haben, die sie gewerkschaftlich einfordern können müssen. Das aber geht natürlich nicht, wenn ihre Arbeit verboten ist.

Aber bedeutet eine Legalisierung von Kinderarbeit nicht, sich von der Vorstellung einer humanen Welt zu verabschieden?

Der Ansatz „Kinderarbeit ist per se schlecht“ erscheint mir zu simpel und vor allem zu erwachsenenzentriert. In Asien, Afrika und Lateinamerika gibt es zunehmend arbeitende Kinder, die sich zusammenschließen und sich gegen das Arbeitsverbot der IAO stellen. Das muss man ernst nehmen, sie haben ja schließlich Erfahrungen mit Arbeit gemacht. Diese Kinder wissen ganz gut, unter welchen Bedingungen sie arbeiten wollen und mit welcher Bezahlung. Auf solche Stimmen sollte man hören, wenn es darum geht, welche Arbeiten man für Kinder akzeptiert und welche nicht.

Die Abschaffung der Kinderarbeit galt als großer Fortschritt in der europäischen Geschichte. Stellen Sie das infrage?

Unser Kindheitskonzept geht davon aus, dass Kinder spielen und in der Schule lernen sollen. Ihr ökonomischer Beitrag für die Gemeinschaft wird ausschließlich in der Zukunft gesehen, wenn sie erwachsen sind. In anderen Kulturen gibt es andere Vorstellungen, wie man in die Gemeinschaft hineinwächst. In Bolivien und Peru gibt es beispielsweise Bürgermeister, die erst 12 oder 14 Jahre alt sind. Bereits Fünfjährige haben dort schon Verantwortungsbereiche – zum Beispiel die Sorge für ein kleines Stück Land oder Tiere. Das ist durchaus ein echter Beitrag für die Dorfgemeinschaft; denn wenn sie das Tier nicht füttern, stirbt es. Das ist kein pädagogisches Konzept wie bei uns die Anschaffung eines Hamsters, wo dann im Zweifel doch die Mutter den Käfig sauber macht.

Aber gute Jobs bekommen später nur diejenigen, die eine anständige Schulbildung haben.

Ja, aber Schule und Arbeit schließen sich nicht aus. Kinder, die neben der Schule arbeiten, begreifen oft viel besser, wie wichtig Schulbildung ist. Wenn sie auf dem Markt handeln, müssen sie rechnen und lesen können, sonst werden sie dort übers Ohr gehauen. Und sie wissen genau, dass sie nur dann die Chance haben, später eine bessere Arbeit zu bekommen, wenn sie einen Bildungsabschluss haben. Und noch eines ist wichtig: Auch bei der Arbeit lernen die Kinder etwas – nicht nur Sozialkompetenz, sondern auch handwerkliche Tätigkeiten oder Verhandlungsgeschick. Viele Kinder sehen ihre Arbeit außerdem nicht nur als Last an, sondern ziehen auch positive Werte daraus. Sie erlangen eine gewisse Autonomie, bringen Geld nach Hause und tragen zum Unterhalt der Familie bei – das macht sie stolz und selbstbewusst.

Interview: Annette Jensen