Der heimliche Grenzübertritt

Die Wahrheit-Wochen der kleinen Verbrechen. Heute: Schussfahrt nach Bad Muskau

Inspiriert von den Kreuzrittern und anderen verdienten Ostlandfahrern wollte ich mit meinem Freund Till im Sommer 1977 ins benachbarte Volkspolen einmarschieren. Als Angriffsziel hatten wir uns die „Schwarze Madonna von Tschenstochau“ ausgesucht. Da wir Nebenstrecken bevorzugten, reisten wir am ersten Tag per Anhalter nicht weiter als eine Handvoll Kilometer. Unsere verregnete Patchworkbekleidung schien private Kraftfahrzeughalter nachhaltig davon abzuhalten, ein Beförderungsverhältnis mit uns einzugehen; dafür zeigten sich Kohlenautos und sogar ein Leichenwagen großzügig. Außerdem froren wir großartig und wälzten uns professionell von einem Hämatom ins andere, denn Schlafsäcke lehnten wir aus prinzipiellen Erwägungen ab.

Fairerweise eröffnete mir Till noch vor dem Grenzübertritt, er habe seinen Personalausweis versiebt. Am dritten Tag der Expedition und nach meisterhaft bestandenen mikroklimatischen Geduldsproben, mochte ich nicht aufstecken. Logisch! Also vereinbarten wir, dass Till im Morgengrauen die völkerrechtlich verbindliche Oder-Neiße-Linie durchwaten oder durchschwimmen, während ich den Grenzübergang in Bad Muskau nehmen solle. Keine große Sache. Von einem Schießbefehl hatten wir hier noch nichts gehört; es war alles ganz still. An der Straße ins Landesinnere wollten wir uns dann treffen, und Till könnte sich wieder anziehen. Prima Plan.

Gegen 5.30 Uhr wechselte Till, lediglich mit einer Badehose auf dem Kopf, das Hoheitsgebiet, und ich turnte an den Grenzposten vorbei. Die waren zwar über die frühe Stunde und die beiden Rucksäcke verwundert, sonst aber schöpften sie keinen Verdacht.

Doch das Glück funkelte nur kurz über unserem Verbrechen: Till hatte seine Hosen kaum zugeknöpft, da erkannten wir durch den völlig schiefen polnischen Regen ein dreiköpfiges slawisches Begrüßungskomitee. Ihre Einladung verstanden wir sofort, weil sie in der international gebräuchlichen Sprache des Feuerwaffenfuchtelns vorgetragen wurde. Wir mussten die Hände heben, als seien wir gewöhnliche Festgenommene, und wurden abgeführt. So ein Quatsch!

Ihr Hauptmann empfing uns in einer vergitterten Audienzhalle und war stinkesauer. Das merkten wir gleich, denn seine Stirnadern traten prall wie Gartenschläuche hervor. Dem kohlekastenförmigen Schnauzbart wuchs aus den Nasenlöchern Unterstützung zu, links und rechts leuchteten Kardinalglempohren. Trotzdem konnten wir nicht offen lachen. Er bot uns reichlich Zigaretten und Fausthiebe an; für Nichtraucher und Pazifisten natürlich voll doof.

Unsere Kritik an den sanitären Verhältnissen seiner Dienststelle tat er als Themenverfehlung ab, also offerierten ihm hintereinander drei äußerst widersprüchliche Versionen unseres Poleneinmarsches, verkniffen uns wohlweislich den Sender-Gleiwitz-Witz und stellten uns bis auf Weiteres unklug, als er plötzlich die Zigaretten aus seinem Angebotskatalog strich und den Anteil des Restsortiments auf das Dreifache erhöhte. Geschwind präzisierten wir unsere Positionen in Richtung Vollgeständnis. Anschließend mietete er uns in der Arrestzelle seiner Kaserne ein. Vorteil: alles warm und trocken. Nachteil: unser Aktionsradius zirkelte deutlich unter zwei Metern.

Mit einer bewaffneten Befreiungsaktion durch mutige Nationale Volksarmisten rechneten wir nicht ernsthaft, obwohl das sicher sehr romantisch gewesen wäre.

Nach einem Tag gemeinsten Böseankuckens wurden wir in Handschellen einigen DDR-Volkspolizisten ausgeliefert, die unnötigerweise das Gefuchtel mit den Waffen wiederholten. Dann chauffierten sie uns nach Bautzen, wo bereits zwei Herren Stasi-Leutnante aus Berlin warteten. Mist: Von der sicherlich überaus reizvollen Umgebung war durch die Nieselschraffur kaum etwas zu erkennen.

Die Beziehungen zu Volkspolen aufs empfindlichste gestört zu haben, jaaawohl, dieser Vorwurf laste auf uns. Ob jetzt die Grenze neu geweiht werden müsste, wollte ich wissen. Doch die Gebärden der Offiziere ließen einwandfrei erkennen, dass es nicht Zeit war für Allotria und heiteren Scherz. Dann wurden wir gefoltert: Hinsetzen, hinstellen, den Ausweis vorzeigen, woanders hinsetzen, hundertmal unseren Namen und „Ich soll nicht durch die Neiße waten“ schreiben. Künftige Auslandsreisen bis 1979 könnten wir uns jedenfalls aus dem Kopf schlagen und stattdessen lieber mal die Haare waschen.

Als wir ihnen langweilig geworden waren, entließen sie uns in die morgendlichen Güsse, husch, husch, nach Hause. Mein zweiter, diesmal bewaffneter Einmarschversuch, 1980, schlug übrigens fehl, weil die NVA auf einmal keine Lust mehr hatte, den Solidarność-Aufstand niederzuschlagen, mein dritter per Rad, 2001, scheiterte am mörderischen Gegenwind. Bringt ja auch nix. So gesehen.

MICHAEL RUDOLF