Alle so wohlerzogen

PRIVATE VIEWING Argentinien – Nigeria mit Zafer Senocak in der „Osteria No. 1“ in Berlin-Kreuzberg und ein Gespräch über Integration, Extravaganz und Poesie

■ Zafer Senocak wurde 1961 in Ankara geboren, wuchs in Istanbul und ab 1970 in München auf. 1985 veröffentlichte er seinen ersten Lyrikband, „Doppelmann“.

■ 1989 zog Senocak in das „novembersüchtige“ Berlin: „Anderswo verleihen Menschen ihrer Stadt Visionen. Hier ist es umgekehrt, man erwartet von der Stadt Einfall und Inspiration.“ Die „Berliner Tetralogie“, bestehend aus „Der Mann im Unterhemd“ (1995), „Die Prärie“ (1997) und „Gefährliche Verwandtschaft“ (1998), hat ihn international bekannt gemacht.

■ Auf Deutsch erschien zuletzt den Roman „Der Pavillon“ (2009), der von einem Münchner handelt, der nach seinem Studium die Honigfabrik seiner Familie in Istanbul modernisieren soll und in politische Wirren gerät. Auf Türkisch hat Senocak seit 2007 drei Romane veröffentlicht. (ik)

VON INES KAPPERT

Rote Designer-Sneekers, die sich zur Spitze hin ganz leicht nach oben wölben, halblanges schwarzes Hemd, Zafer Senocak hat sich die „Osteria No. 1“ fürs gemeinsame Public Viewing des Spiels Argentinien – Nigeria gewünscht. Aus Nostalgiegründen, sagt er. Anfang der neunziger Jahre hat der Lyriker, Essayist und Schriftsteller gegenüber dem ehemals legendären italienischen Szenerestaurant in Berlin-Kreuzberg gewohnt. Heute ist der Ort nicht mehr so angesagt, das Zelt eher locker gefüllt.

Fan? Klar, seit 1974. Ich war damals nicht lange in Deutschland, erzählt er, und hier gab’s Farbfernsehen. Ich habe die WM also in Bunt gesehen. Das prägt fürs Leben. 3:1 für Argentinien ist Senocaks Tipp. Obwohl er, wie die meisten hier, dem Außenseiter Nigeria den Sieg wünscht. Bis auf die zwei auffallend gut aussehenden Frauen neben uns. Die springen von der Bierbank auf und bleiben regungslos stehen. Es ertönt die argentinische Hymne, Spaßpatriotismus kann also auch ernst sein. Wir ziehen kurz die Augenbraue hoch und plaudern weiter. Drei Minuten nach Anpfiff werden die Damen zum ersten Mal laut werden.

Die glattgezogenen Jungs von der aktuellen deutschen Elf sind Senocak zu nett. Schon die Spitznamen! „Schweini“, wer wäre jemals auf die Idee gekommen, „Netzi“ oder „Becki“ zu sagen? Immerhin ist die Mannschaft nicht mehr so bierernst und reindeutsch, werfe ich das Argument eines Kollegen ins Feld, das sei doch ein Fortschritt. Na prima. Die Deutschen jetzt also mit migrantischen Kleinbürgern.

Lauter wird’s nicht

Senocak trinkt Bier. Lionel Messi rennt und rennt, Heinze trifft. Noch mal wird der nigerianische Torhüter das nicht zulassen. Die jungen Leute heute, Senocak grinst, hätten so ein erstaunlich neutrales Verhältnis zur Ordnungsliebe, es fehle der Spaß an der Extravaganz, ein wenig fade sei das schon. Außerdem: Charakter sei wirklich viel wichtiger als Nationalität oder von ihm aus auch Internationalität.

Senocak erinnert mich an den Westberliner Linksintellektuellen aus den coolen Achtzigern. Natürlich ist man anders und schlauer als die meisten, natürlich ist man machtkritisch und macht sein eigenes Ding. Zugleich wird eine gewisse Volksnähe durch die Leidenschaft zum Fußball gewahrt, auch klar. Was bei ihm aber fehlt, sind die damals obligatorische Arroganz und die ostentativ schlechte Laune. Senocak wirkt fröhlich, selbstironisch und vorsichtig.

Das Spiel verliert an Fahrt, wir hoffen, dass dem Kommentator kleine Inkorrektheiten gegenüber „den“ Afrikanern unterlaufen. Umsonst. Auch diese Jungs sind mittlerweile gut erzogen, Tabuverletzung oder geschmacklose Witze, das läuft nicht – was natürlich auch sein Gutes hat, rufen wir uns umgehend zur Ordnung.

Einzig der Lärm zerrt weiter an den Nerven der westlichen Besucher. Reinhold Beckmann ist in der Pause sichtlich angeschlagen und kann kein rechtes Interesse für seinen Gast aufbringen, der gut gelaunt und in fast perfektem Deutsch die angeblich eigentlich afrikanische Tröte vorführt, die aus Antilopenhorn. Hey, du hast noch ein paar Wochen vor dir, rufen wir ihm leise zu, da hilft nur die Kapitulation, leiser wird’s nicht werden.

Das Klischee vom Afrikaner, der noch nicht reif ist, um Großveranstaltungen auszurichten, musste ja aufgegeben werden, meint Senocak. Die Chancen, dass es durch das vom stets undifferenziert, also ohne Sinn und Verstand lärmenden Afrikaner ersetzt wird, stehen ganz gut.

Im Deutschen ironischer

In unserem Zelt kann von Vergemeinschaftung durch Radau keine Rede sein. Zafer Senocak erzählt ungestört von seiner unlängst beendeten Lesereise in die Türkei. Er habe immer auch auf Türkisch geschrieben, aber bislang vor allem seine deutschsprachigen Texte veröffentlicht. Seit Kürzerem nun arbeite er tatsächlich in beiden Sprachen.

Und was für ein Autor bist du im Türkischen? Oje, die „Wer bist du?-Frage“! Senocak stöhnt und überlegt trotzdem. Im Deutschen bin ich eindeutig ironischer, vielleicht auch noch etwas analytischer. Essays schreibe ich auch nur auf Deutsch, Gedichte in beiden Sprachen. Aber immer diese Sorge um die Mehrsprachigkeit und nationale Identitäten, meine Güte. „Sprachen sind nicht aufeinander eifersüchtig“, hat er einmal geschrieben, und ein bisschen Schizophrenie ist schon in Ordnung, fügt er hinzu.

Als Premiumbeispiel für den entspannten Umgang mit Kulturmixturen fallen ihm die deutschen Fahnen mit Halbmond anstelle des Bundesadlers ein. Sie sind im Moment wieder überall in Kreuzberg zu sehen, spart ja auch Platz. Schlusspfiff, Anstandsapplaus. Der Anfang ist eben immer ein bisschen zäh. Kollegen vom Poesiefestival lassen übers Handy wissen, dass sie noch in Potsdam sind. Offenbar touristisch ambitioniert. Senocak schüttelt lächelnd den Kopf.