: Großväter wollen Wiedergutmachung
ITALIEN Vor dem WM-Auftakt gegen Paraguay traut der Altherrentruppe des Titelverteidigers niemand etwas zu. Aber gerade diese Geringschätzung scheint die Azzurri anzustacheln. Sie rüsten sich für den letzten Kraftakt
GIUSEPPE BERGOMI, EHEMALIGER NATIONALSPIELER
AUS IRENE FLORIAN HAUPT
Gennaro Gattuso gehört zu jenen Fußballprofis, die auch mal links und rechts aus dem Mannschaftsbus schauen, wenn sie in der Welt unterwegs sind. Was er dabei von Südafrika bislang so erlebt habe, erklärte Italiens Mittelfeldveteran am Samstag, habe ihn schon ein wenig nachdenklich gestimmt. Die Menschen seien freundlich und heiter, doch andererseits könne einer wie er ohne vier Bodyguards nicht mal in ein Einkaufszentrum gehen. Man müsse ehrlich sein: Im Vergleich zu 2006 seien die Dinge etwas kompliziert.
Die Einschätzung lässt sich problemlos auf die Lage innerhalb des Zauns übertragen, auf das Universitätsgelände im Süden Pretorias, wo Gattusos Team die Zelte aufgeschlagen hat. Kompliziert oder sogar aussichtslos scheinen die Dinge für Italien zu liegen. Eine holprige WM-Qualifikation, ein schwacher Confederations Cup, eine Pleite im letzten Testspiel gegen Mexiko. Poröse Verteidigung, wenig Talent, die Verletzung von Spielmacher Andrea Pirlo. Verpasster Umbruch, überalterter Kader, Antonio Cassano, Francesco Totti und Mario Balotelli zu Hause. Und, und, und. Nie in der WM-Geschichte ist ein Titelverteidiger schlechter gehandelt worden als Italien 2010.
„Alte Mannschaft, alte Mannschaft, alte Mannschaft? Wenn ich alt bin, was ist dann mein Großvater?“ Gattuso, 32, versucht dem Ganzen mit seinem bodenständigen süditalienischen Humor zu begegnen. Aber natürlich ist er viel zu reflektiert, um nicht zu wissen, dass man in ihm ein Paradebeispiel der Dekadenz sehen kann. Der Krieger ist müde und verletzungsanfällig geworden, bei seinem AC Milan saß er in dieser Saison meist nur auf der Bank, Gleiches droht ihm heute beim WM-Auftakt gegen Paraguay (20.30 Uhr, RTL). Es ist ein offenes Geheimnis, dass ihn Nationaltrainer Marcello Lippi mehr aus alter Verbundenheit und wegen seines guten Einflusses auf das Team berufen hat. Für Gattuso sind es Tage der Melancholie und des Abschieds. Nach der WM, das erklärte er an diesem Mittag noch, wird er das Nationaltrikot für immer ausziehen.
Mit ihm wird eine ganze Weltmeister-Generation abtreten, von den Berliner Helden sind Totti, Grosso, Materazzi, Toni schon aussortiert, aber eigentlich überrascht mehr, wer heute noch alles auf dem Platz stehen wird. Buffon, Zambrotta, Camoranesi, Gilardino, Iacquinta und auch der 37-jährige Kapitän Fabio Cannavaro, dessen Auftritte seit längerem mehr Mitleid als Bewunderung erregen. Im Sommer wird der Abwehrchef nach Dubai wechseln, Lippi könnte folgen, vielleicht auch Gattuso, trotz laufenden Vertrages bei Milan. Eine hübsche Rentnerkolonie von Weltmeistern wäre das am Persischen Golf.
Die Trotzigen
Vorher wollen sie sich allerdings noch zu einem letzten Kraftakt aufraffen, zumindest nicht so bitter enttäuschen wie die Titelverteidiger zuvor, Frankreich 2002 (Aus in der Vorrunde) und Brasilien 2006 (Viertelfinale). In der Casa Azzurri, wo sich Prominente und Medien bei Pasta, Wein und Italopop begegnen, beschwört Giuseppe Bergomi, der Weltmeister von 1982, alte italienische Tugenden: „Wir haben nicht so viel Talent wie Spanien oder Holland, aber wir spielen nach unserer Tradition: Verteidigen und kontern. Ich habe immer Vertrauen in Italien, am Ende werden wir mit dabei sein.“
Zur italienischen Tradition gehört auch, dann am besten zu spielen, wenn der Trotz am größten ist, wenn sich alle Welt verschworen zu haben scheint. Und wenigstens insofern sehen sie sich auf gutem Weg, denn ähnlich wie 2006, als die Mannschaft im Zuge des „calciopoli“-Skandals noch im Trainingslager von den eigenen Fans ausgebuht wurde, gibt es Gründe, indigniert zu sein: Am Donnerstag beim großen Eröffnungskonzert in Soweto, präsentierte nicht etwa ein Italiener, sondern Patrick Vieira, einer der 2006 im Finale bezwungenen Franzosen, den Weltpokal – unter dem Grinsen der Fifa-Funktionäre. „Eine Taktlosigkeit“, schimpfte Italiens Verbandschef Giancarlo Abete.
Und dann ist da noch die Sache mit den Politikern zu Hause. Dass Minister Roberto Calderoli von der separatistischen Lega Nord die Spieler zum Prämienverzicht aufforderte, hat für enorme Verstimmung gesorgt. Wenn es nach der WM etwas zu feiern gebe, würden ihm keine Politiker auf den Wagen kommen, keifte Lippi. Derweil zeigte Kapitän Fabio Cannavaro, dass die Mannschaft keineswegs in allen Bereichen ihre Klasse verloren hat. Man werde einen Teil der Tantiemen für die Stiftung „150 Jahre italienische Einheit“ spenden, erklärte er. Nächstes Jahr feiert Italien seinen Geburtstag – die Lega Nord will alle Feierlichkeiten boykottieren.
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