Verschobene Visionen

Der alte Schwung kommt wieder: Die Ausstellung „Georg Heinrichs, Architekt“ in der Berlinischen Galerie öffnet wieder den Blick für die Entzerrung der städtischen Funktionen und die großen Formen

VON RONALD BERG

Nicht viele Bauwerke bekommen Spitznamen. Ob aus Respekt oder eher aus Galgenhumor, bleibt manchmal die Frage. Georg Heinrichs’ Autobahnüberbauung an der Schlangenbader Straße heißt bei vielen schlicht die „Schlange“. Tatsächlich hat das Gebäude eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Reptil. Der rund einen halben Kilometer lange und 46 Meter hohe Komplex folgt dem leicht gekrümmten Verlauf der Autobahn. Trotz der Riesenmasse mit über 1.000 Wohnungen wirkt der Bau durch die viergeschossige Kante zur Straße nicht erdrückend auf die Umgebung. In den darüber ansteigenden, begrünten Terrassengeschossen und dem krönenden 14-geschossigen Hochhausriegel ist von der Autobahn darunter nichts zu bemerken.

Heinrichs’ Entwurf ist ein typisches Produkt der 70er-Jahre, sowohl was die Ausnutzung des knappen Raums im eingemauerten Westteil Berlins angeht als auch die Visionen der Zeit. Ähnliche Ideen zu einer Stadt der Zukunft hatte es bereits in den Zwanzigerjahren gegeben. Die Generation von Heinrichs – 1927 als Sohn eines Architekten in Berlin geboren – fühlte sich als Vollstrecker der vor dem Krieg Papier gebliebenen Visionen.

Kriegszerstörung und Kahlschlagsanierung schafften Raum für Projekte, die mit der alten Stadt nichts mehr zu tun haben wollten. Die Ideen für eine aufgelockerte Stadt, die durch Trennung der Funktionen Verkehr, Wohnen und Arbeiten aufgelöst und – wie man dachte – gesunden würde, stammten aus der Gedankenwelt von Le Corbusier, Walter Gropius oder Ludwig Hilberseimer. Die 60er- und 70er-Jahre verwandelten sie in Beton.

Besonders Heinrichs, dessen achtzigsten Geburtstag die Berlinische Galerie jetzt zum Anlass einer Werkschau nimmt, konnte sich zu dieser Zeit stadtprägend in Szene setzen. Das Forum Steglitz (1967–70), das Opernviertel an der Bismarckstraße (1964–67): mit nicht gerade kleinen Bauten hat Heinrichs sich in die Textur Berlins bis heute eingeschrieben. Zudem war er maßgeblich für die Generalplanung des Märkischen Viertels verantwortlich. Die in eine Kleingartenkolonie hineinkomponierte, neue Stadt für 40.000 Menschen mit drei Bebauungsschleifen zeigt, wie man in den Sechzigerjahren dachte: nämlich groß. Die ganze Stadt bildet eine Großform, eine gestaffelten Skyline aus der Ferne. Die Kritik an den Großsiedlungen ließ nicht lange auf sich warten. Spätestens Ende der Siebzigerjahre galten solch modernistische Ideen als gescheitert. Es folgte der Paradigmenwechsel und die alte „europäische Stadt“ wurde als Leitbild wiederentdeckt.

Stadtreparatur in den alten Mietskasernen und ein Zurück zu Blockrandbebauung, diese Doktrin hat sich in Berlin als Baumaßgabe bis heute gehalten. Georg Heinrichs konnte und wollte da mit mittun. Das enge Korsett entsprach nicht seinem visionären Elan. Nachdem er in den Achtzigerjahren mit seinen auf kleineren Maßstab heruntergekommenen Entwürfen bei den neuen Machthabern im Berliner Städtebau nicht mehr erfolgreich war, löste er sein Architekturbüro kurzerhand auf.

Umso erstaunlicher ist nun zu sehen, dass Georg Heinrichs erneut gefeiert wird. Und zwar von einer Generation von Kunsthistorikern so um die dreißig, namentlich Thomas Steigenberger, Alexander Hoff und Jochen Nuss. Die Bühne für ihr vehementes und begeistertes Plädoyer für Heinrichs bietet die Ausstellung der Berlinischen Galerie mit Plänen, Skizzen und Fotos aus Heinrichs architektonischem Nachlass. Zur Eröffnung zeigten die jungen Kunsthistoriker einen Interviewfilm, in dem Heinrichs noch einmal sein Werk resümiert. Von Reue oder Scham war hier nicht die Rede. Blickt man vorurteilsfrei auf das Märkische Viertel oder die Schlangenbader Straße, kann man Heinrichs wohl zustimmen: Sie haben sich als „wohlgeordnete Stadtviertel“ bewährt. Zum Beispiel wohnt man im Märkischen Viertel noch immer unbehelligt vom Verkehr und das Draußenspielen für Kinder erfordert keine komplizierten Verabredungen. Dass der Sinn für Heinrichs Qualitäten aber längst noch nicht wieder Allgemeingut sind, zeigt der Umgang mit seinen Bauten.

Beim Jugendgästehaus in der Kluckstraße wurden die schönen und teuren Möbel von Alvar Aalto – Heinrichs hatte einst in seinem Büro gearbeitet – bei der Renovierung einfach weggeschmissen. Auch das lange leer stehende evangelische Konsistorium an der Bachstraße im Hansaviertel soll laut offiziell geltendem „Planwerk Innenstadt“ durch eine Blockrandbebauung abgelöst werden. Das 1970 fertig gestellte, Y-förmige Hochhaus mit seiner aluminiumglänzenden Außenhaut passt nicht nur wunderbar in die vergleichbare Bebauung der Umgebung, sondern spiegelt in seiner Leichtigkeit auch etwas vom optimistischen Geist seiner Bauzeit. Die Enkelgeneration, die in jenen Bauten der Sechziger- und Siebzigerjahre groß geworden ist, hat offenbar in dieser Moderne eine Heimat gefunden, die es gegenüber dem noch amtierenden Zeitgeist zu verteidigen gilt.

Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124–128, tägl. 10–18 Uhr, bis 27. August