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Das Labyrinth des Grauens

Die Wahrheit-Wochen der kleinen Verbrechen. Heute: Im Tunnel der verlorenen Papiere

„Amtsgericht, Registratur“, sagte der Mann vom Studentenarbeitsamt. „Wenig Geld, dafür regelmäßig, und man sitzt im Warmen.“ Ich nickte. Das klang nach Wachkoma, nach staatlich subventionierter Gammelei. Genau das Richtige, um mich von den kulturellen Heimsuchungen zu erholen, die ich damals Nacht für Nacht und für schäbiges Zeilenhonorar im Dienst des Lokalblattes zu protokollieren hatte. Ich sagte dem Chefredakteur, er sei ein Arschloch, trank sechs Halbe Bier und schlief endlich mal wieder acht Stunden durch.

Am nächsten Morgen fiel der erste Schnee. Ich hatte Kopfschmerzen, zerkaute zwei „Aspirin Direkt“ und stapfte durch die wirbelnden Flocken zum Justizgebäude, nicht ahnend, dass sich hinter seinen alten Mauern ein Sumpf aus Irrsinn, Anarchie und krimineller Verwahrlosung verbarg, dessen Odium imstande war, die Moralvorstellungen eines jungen Menschen binnen Tagen zu Staub zu mahlen.

Vorerst prüfte nur ein blässlicher Amtsrat mein Führungszeugnis und hielt den Standardvortrag über die Pflichten des Staatsdieners. Ich konnte mich allerdings nicht konzentrieren, weil er einen S-Fehler hatte, und schielte wie ein betrunkenes Dromedar. Am Ende ließ mir der Amtsrat einen mausgrauen Kittel aushändigen und gab mich in die Obhut eines sklerotischen Uniformträgers. Der Alte schlurfte unter stetem, aber unverständlichem Brummeln über Flure und Treppen immer weiter hinauf bis unter das Dach des Gerichtes, wo er mich vor einer Kammer abstellte. An der Tür prangte in feinem Sütterlin das Wort „Registratur“, darunter zwei Namen: Brungs und Vietz. Ich klopfte. Nichts rührte sich. Ich klopfte ein weiteres Mal und trat ein.

Brungs und Vietz trummten hinter ihren Schreibtischen wie in Stein gemeißelt. Zwei kolossale Proleten-Torsi mit Stulle und Bild-Zeitung. Außer ihren Kauwerkzeugen bewegte sich nichts. „Tach, ich bin der Neue“, sagte ich. Die Torsi schwiegen. Ich setzte mich an einen Wandtisch, packte ein Buch aus und las. Anderthalb Stunden lang. Dann brüllte plötzlich eine Stentorstimme: „Prost!“ Sie gehörte Vietz, der mir ein randvolles Wasserglas Billigweinbrand vor die Nase knallte. „Und ex!“, ergänzte Brungs. Wir tranken. Vietz rülpste und begann jetzt, seine Bild penibel und in Superzeitlupe auf Linealgröße zu falten. Danach saß er wieder wie tot, genau genommen fixierte er einen Kalender mit Alpenpanoramen, der schief an der Wand hing. Unterdessen hatte Brungs eine Fellmütze, Fäustlinge und einen mottenzerfressenen Pelzmantel aus dem Schrank gekramt. Er wies auf einen Stapel Dokumente, die ich offensichtlich an mich nehmen sollte, und schlüpfte in die Wintergarnitur. Er sah aus wie Amundsen auf dem Weg zum Südpol. Dass es noch weit unbehaustere Orte gab, sollte ich nur allzu bald erfahren.

Nach einem kurzen Marsch öffnete Brungs eine Stahltür. Ein eisiger Hauch ließ mir die Glieder gefrieren. Brungs zog eine Taschenlampe aus dem Mantel und verschwand in dem schwarzen Loch. Ich folgte ihm vorsichtig. Wir stiegen durch ein Labyrinth des Grauens. Endlos reihte sich Stollen an Stollen, Abzweige verschwanden im Nichts oder endeten jäh an schroffen Kanten. Wir rutschen über Rampen, wateten durch Schneepfützen und halb gefrorenem Taubenschiss, der irgendwo aus dem Dämmer rieselte. Einmal geriet ich ins Schlingern, sackte aber, als ich Halt suchte, in eine weiche Masse. Papier, schoss es mir durch den Kopf, das ganze verfluchte Tunnelsystem besteht aus nichts als Papier. Und tatsächlich. Aus dem Brungs’schen Lichtkegel schälten sich Mahnakten, Strafakten, Vollstreckungsakten, Grundbücher, Handels- und Vereinsregister, über Dekaden gestapelt, zu meterlangen Mauern und wüsten Haufen getürmt. Sie moderten in aasigen Gruben, füllten säckeweise Schründe und Spalten, deren albtraumschwere Dunkelheit nur ab und an von einer nackten Glühbirne durchbrochen wurde.

Als sich die Höhle zu einem kleinen Saal erweiterte, hielt Brungs an. Er gab mir die Taschenlampe, riss mir den Aktenstapel aus den Armen und warf das Paket ohne hinzusehen in eine Ecke. Es staubte, gelassen trabte eine Ratte davon. „Wie wollen Sie hier jemals etwas wiederfinden“, fragte ich konsterniert. Brungs keckerte wie irr. „Heißt es nicht, nur wer suchet, der findet?“

Diese Art der Verwaltungsreform erfüllte Straftatbestände im Dutzend. Mir hat sie aber sofort eingeleuchtet. Sie war idiotensicher. Wer hätte sie rückgängig machen sollen? Niemand – außer Brungs und Vietz – hatte auch nur eine vage Vorstellung von den Wucherungen der modrigen Aktengruft. Bis auf meine Wenigkeit. Aber ich machte mich zum Komplizen und schwieg. Denn das Leben war schön. Was angefordert wurde, versahen wir mit dem Vermerk „nicht auffindbar“, was hereinkam, entsorgten wir im Labyrinth. Der Rest des Tages verglomm zwischen Mariacron und stiller Meditation. Das ging drei Jahre gut. Dann stockte unvermittelt der Papiernachschub. In der Halle des Amtsgerichts stapelten sich Kartons, die die Aufschrift „Panasonic“ trugen. Ich kündigte, aber ich bereue nichts.

MICHAEL QUASTHOFF

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