Schelte für den Staatsanwalt

CIFTLIK-PROZESS: Staatsanwaltschaft versäumt Zeugenbelehrung und sortiert Beweismaterial in falsche Akte ein. Die Frage lautet: Zufall oder Methode?

„Die Staatsanwaltschaft hätte auf die Belehrung der Zeugin hinwirken müssen“

RECHTSANWALT ERNST MEDECKE

Im Scheinehe-Verfahren um den SPD-Politiker Bülent Ciftlik dürfte während der heutigen Hauptverhandlung die Rolle der Staatsanwaltschaft im Fokus stehen. Der Grund: Nach Auffassung der Verteidiger von Ciftlik und dem Mitangeklagten Kenan D. vernachlässigten die Ermittler gleich zweimal in eklatanter Weise ihre Pflichten.

Aufreger Nummer eins: Am 31. Mai sagt die vom Richter geladene Zeugin Nuran A. während der Hauptverhandlung aus und bestätigt im Wesentlichen Ciftliks Angaben, bevor akute Herzprobleme ihre Vernehmung stoppen. Eine Woche später kommt heraus: Nuran A. hätte belehrt werden müssen, dass sie die Aussage verweigern kann, um sich nicht selber zu belasten. Denn in einem anderen Verfahren ermitteln die Staatsanwälte gegen sie und Kenan D. wegen Anstiftung zu einer Scheinehe als Beschuldigte – Nuran A. soll eine Freundin zur Heirat eines von Ausweisung bedrohten Türken überredet haben.

Während Richter Wegerich an diesem 31. Mai nichts von dem Ermittlungen weiß, ist Oberstaatsanwalt Michael Elsner der Fall „Jennifer O.“ bereits bestens vertraut: Er selbst hat gut zwei Wochen zuvor an der polizeilichen Vernehmung von Jennifer O. zeitweise teilgenommen und die Beschuldigte sogar über ihre Rechte und Pflichten belehrt.

Doch statt das Gericht über den Verdacht gegen Nuran A. zu informieren, bleibt Elsner stumm. So verhindert er eine umfassende Belehrung der Zeugin und lässt diese ins offene Messer laufen. „Die Staatsanwaltschaft hätte zwingend auf die Belehrung hinwirken müssen“, sagt der Strafverteidiger Ernst Medecke. Die Unterlassungssünde „könne ein Grund sein, die Ablösung des Staatsanwalts zu beantragen“. Deren Sprecher Wilhelm Möllers sagte nur: „Kein Kommentar“.

Aufreger Nummer zwei: Zum Prozessauftakt verkündet Elsner, eine von Ciftliks mitangeklagter Ex-Freundin Nicole D. angeblich verfasste Mail, in der sie ihr Ciftlik schwer belastendes Geständnis quasi widerruft, sei vermutlich gefälscht. Schließlich sei sie im E-Mail-Account von Nicole D. weder im Postein- oder -ausgang, noch im Papierkorb auffindbar.

Den Spam-Ordner der Beschuldigten aber inspizierten die Ermittler offensichtlich nicht, denn dort fand Nicole D. laut Staatsanwaltschaft Ende April die dubiose Mail. Doch die Ermittler verschweigen den Fund dem Gericht, der Screenshot des Spam-Ordners landetet nicht in der Ciftlik-Akte. Stattdessen taucht das Beweismittel fälschlicherweise in einer anderen Akte auf, wird dort nur durch Zufall durch die Verteidigerin von Kenan D. entdeckt und Richter Wegerich zur Kenntnis gegeben.

Auf dessen Nachfragen räumte Oberstaatsanwalt Ronald G.-R. nun ein, es sei „versehentlich unterblieben“, das Beweismaterial in die richtige Akte zu sortieren und auch die „zeitnahe Erstellung“ eines Herkunftsvermerks sei schlicht „versäumt“ worden.

Die VerteidigerInnen von Kenan D. und Bülent Ciftlik mögen bei so viel Verschwiegenheit zum Nachteil ihrer Mandanten inzwischen nicht mehr an Zufall und Schlamperei glauben – der Vorwurf der gezielten Beweismittelunterdrückung steht damit im Raum. MARCO CARINI