Alles auf eine Karte

72.000 sahen die erste WM-Party im Berliner Olympiastadion. Davor hofften noch Tausende auf Tickets. Die gab es für horrende Preise auf dem Schwarzmarkt oder für Ausdauernde kurz vor Abpfiff

von Nadja Dumouchel

Noch acht Stunden: Djalma de Sá Alvarena ist früh dran. Es ist erst 13 Uhr, die U-Bahn ist noch leer, er und sein Freund Leonardo sind aber schon auf dem Weg zum Olympiastadion. „Wir wollen noch versuchen, eine Karte zu kriegen“, sagt der 44-jährige Brasilianer. 1.300 Dollar hat er für den Flug nach Deutschland bezahlt. Wenigstens ein Spiel will er von seiner Mannschaft sehen. Er spricht fast perfektes Hochdeutsch. Ab und zu verfällt er in einen süddeutschen Akzent. In den 80ern hat der gelernte Maschinenbauingenieur zwei Jahre in Karlsruhe gearbeitet.

Djalma ist nicht der Einzige, der am U-Bahnhof Olympiastadion auf der Suche nach einem Ticket ist. Die Stimmung ist etwas angespannt. „600“, benennt ein Mann seinen Preis für ein Ticket. Djalma will maximal 200 Euro zahlen. „Bestimmt wird es billiger, je näher wir ans Stadion kommen“, hofft Djalma.

Am Stadion holen er und sein Freund als erstes ein kühles Bier. Eigentlich wollten sie nichts trinken, um nicht übers Ohr gehauen zu werden. Aber es ist heiß, 33 Grad sollen es werden, heißer als in Brasilien, dort ist jetzt Winter.

Noch sieben Stunden: Nicht alle, der ein „Suche Ticket“-Schild hochhalten, wollen wirklich eine Eintrittskarte kaufen. Viele sind getarnte Schwarzhändler, die den wachsamen Blicken der Polizisten entgehen wollen. Akim, ein Franzose, sagt: „Ich bin nur ein Freund. Ich will den Brasilianern helfen, Karten zu einem fairen Preis zu kriegen. Die werden ja immer abgezogen.“ Seinen Nachnamen will er nicht nennen, und eigentlich heiße er auch nicht Akim. Zu viele Fragen machen ihn nervös. Das liegt vielleicht daran, dass er gerade einen Deal abschließt. Er hat ein Angebot zugeflüstert bekommen, die Karte für 200 Dollar. Er kommt zurück zu seinem „brasilianischen Freund“ und drückt ihm die Karte in die Hand – für 300 Euro. Wo der Differenzbetrag geblieben ist, bleibt Akims Geheimnis.

In der Nähe filmt ein brasilianisches Fernsehteam. Aufgeregte Brasilianer schreien ins Mikro und fuchteln mit den Armen vor der Kamera. „Sie sind verärgert wegen der schlechten Organisation mit dem Ticketverkauf“, übersetzt Djalma. Er hat derweil ein Angebot bekommen: 375 Euro. Djalma lässt sich überreden und zahlt 175 Euro mehr als ursprünglich geplant. „Emotionen haben keinen Preis“, sagt er lachend. „Jetzt ist es Zeit, zu feiern!“

Noch sechs Stunden: Auf den Bierbänken des Restaurants Stadion Terrassen steigt schon eine Party. Eine gelb-grüne Truppe trommelt Salsa-Rhythmen. Es sind viele verschiedene Trommeln, in allen Größen. Die Leute drum herum singen mit und klatschen. Auch einige wenige Kroaten feiern mit.

„Nicht alle Brasilianer können sich eine WM-Reise leisten. Nur die der oberen Schicht oder Leute aus der Mittelschicht, die keine Familie haben, so wie ich“, sagt Djalma. Dann muss er mitsingen – die brasilianische Hymne in der Samba-Version. Immer wieder ruft die Gruppe: „Sechs Mal Weltmeister!“

Noch fünf Stunden: Die Trommler haben einen engen Kreis um ein zierliches Mädchen gebildet. „Sie tanzt echtes Salsa“, erklärt Djalma und klatscht zu ihren geschmeidigen Bewegungen. Die Tänzerin heißt Mariana Carneiro. Dank eines Austauschprogramms studiert sie gerade in Bremen. Ein Karte für das Stadion hat sie nicht, sie versucht aber auch gar nicht, eine zu bekommen. „Wir gehen zur Show von Ivete Sangalo aus Bahia. Sie singt hier ganz in der Nähe. Alle kennen sie in Brasilien“, erklärt Carneiro. Dort könne man auch das Spiel auf einer Leinwand sehen, erzählt sie und knutscht anschließend wild mit ihrem Freund.

Noch vier Stunden: Djalma entdeckt das Reich der Kroaten, direkt über seinem Kopf. Eine der Stadionterrassen ist komplett rot-weiß kariert. Von hier oben haben die kroatischen Fans einen guten Blick auf das Stadion und die brasilianische Party eine Etage tiefer. „Das ist die Kunst des Krieges“, meint Djalma. „Von der erhobenen Position beobachten die Kroaten ihren Gegner.“

Die kroatischen Fans stimmen nur ab und zu ein Lied an – ohne Instrumente. Hier grölen nur Männer. Eine der wenigen Frauen trägt ein perfekt abgestimmtes Outfit in den Farben der Flagge ihres Landes: zu rotem Ohrschmuck eine weiß umrandete Brille und knallroten Lippenstift zum hellen Teint ihres Gesichts. Ihr Mann sagt: „Eines dürft ihr nicht vergessen: Wir sind ein kleines Land. Aber wir sind ein stolzes Land.“

Noch drei Stunden: Langsam sammeln sich Massen vor den Toren des weiträumig abgesperrten Stadions. Von ihrer Terrasse blicken die kroatischen Fans auf ein buntes Menschenmeer, das von allen Richtungen zu ihnen strömt. Im Restaurant Stadion Terrassen läuft das Spiel Frankreich gegen die Schweiz. Aber das Lokal ist überfüllt. Djalma und seine Freunde versuchen, durch ein Fenster einen Blick auf einen kleinen Fernseher zu werfen. Lächelnde Polizisten auf großen Pferden reiten vorbei. Djalma lacht überrascht: „Eine Parade? Wofür?“

Noch zwei Stunden: Die Schlangen vor den vielen Eingangskontrollpunkten werden immer länger. Djalma verlässt mit seinen Freunden die brasilianische Party. „Ging es heute darum, eine Karte zu bekommen oder die Stimmung zu erleben?“, fragt er sich laut. Es ging um die Stimmung, ist sein Fazit. Aber eine Karte für einen unglaublichen Preis hat er sich trotzdem gekauft. Zufrieden lächelnd reiht er sich in die Schlange ein. Die trommelnden Brasilianer musizieren, bis sie ihre Rucksäcke beim Sicherheitscheck öffnen müssen.

Der Platz vor dem Stadion leert sich schnell. Die deutsche Sprache ersetzt die multilingualen Sprachfetzen. Die Deutschen trudeln in Ruhe ein, ohne Angst, etwas zu verpassen.

Noch eine Stunde: „Ich brauche Tickets“, ruft ein Kroate abwechselnd auf Englisch und Kroatisch. Der Schwarzmarktpreis liegt immer noch bei etwa 300 Euro. Wer weniger Geld hat, kann sich für 2 Euro vor der U-Bahn-Station schminken lassen. Aber die Zeit nimmt sich kaum noch jemand. Aus dem Stadion ist bereits Jubel zu hören. Die Bedienung der Gaststätte Am Olympiastadion freut sich, dass gleich Anpfiff ist. Sie ist so erschöpft, dass sie nicht mehr reden mag. „Ich weiß nichts mehr, nicht mal meinen Namen“ sagt sie und lacht müde. „Das war die Hölle.“ „Wasser, Wasser, Wasser“, seien die Worte gewesen, die sie heute am häufigsten gehört hat.

Anpfiff: Barbara, Stipe und Ana rennen hektisch vor dem Stadion herum. Die kroatischen Geschwister haben keine Karte bekommen. „Vielleicht fahren wir zur Fanmeile am Brandenburger Tor“, sagt die große Schwester, die ihre Augenlider im Blau der kroatischen Fahne geschminkt hat. Dann finden die Jugendlichen noch einen Platz im Preußischen Landwirtshaus. Dort sitzen schon viele brasilianische und kroatische Fans auf Stühlen und am Boden. Der Raum ist dunkel und stickig, die urige Einrichtung in dunklen Tönen steht im Kontrast zu der bunten Kundschaft. Ana bekommt einen Platz am Ende einer Bank angeboten: von einem Brasilianer. Ihre Augen leuchten auf. Kaum sitzt die 18-Jährige, hat sie auch schon seinen Arm um ihre Schultern.

44. Minute: Brasilianer bejubeln vor einem Fernsehübertragungswagen das 1:0 ihrer Mannschaft. Auch die etwas größeren Fans aus Kroatien haben ruhig, aber anerkennend geklatscht.

Ednilton Oliveira Frreira weiß nur durch den Jubel aus dem Stadion, dass ein Tor gefallen ist. Der Brasilianer steht immer noch an den Sicherheitskontrollen und hofft, dass vielleicht gegen Spielende die Tore für die Wartenden geöffnet werden. Oder dass ein Wunder geschieht und er doch noch eine Karte für 100 Euro bekommt. „Wer nichts riskiert, bekommt auch nichts“, sagt er. Der 38-Jährige studiert derzeit Französisch in La Rochelle. Für den WM-Monat ist er nach Deutschland gekommen. Er will hier arbeiten, egal was, um mit dem Geld von einer WM-Stadt in die nächste reisen zu können.

Zweite Halbzeit: Um 22.13 Uhr passiert das Unglaubliche: Ein Asiate kommt auf Ednilton zu. „Ich habe dich vorhin schon hier stehen sehen“, sagt er und schenkt ihm seine Karte. „Genieß es!“ Der Brasilianer stürzt zum Eingang – vergeblich. Der Asiate war im Stadion. Beim Hinausgehen verliert das Ticket seine Gültigkeit. Doch Ednilton ist kämpferisch: „Ich werde es bis zum Schluss versuchen.“ Nichts bringt ihn aus der Bahn. „Als ich die Karte bekommen habe, war die Freude so groß, dass es sich schon allein dafür gelohnt hat“, sagt er und verschwindet in einem anderen Eingang. Dieses Mal kommt er nicht zurück. Wie er das geschafft hat, ist sein Geheimnis. Das Spiel läuft noch eine halbe Stunde.