Wir lernen, die Masse zu lieben

Die Bahn ist proppenvoll. Menschen mit Aktenkoffern und Fahrrädern drängen sich nach Feierabend in die Abteile und finden kaum Platz – überall sind schon Fußballfans. Es riecht nach Bier, die Luft steht. Man erreicht kaum eine Stange zum Festhalten.

Plötzlich fangen die kroatischen Fans an, kantige Sprechchöre durch den Zug zu rufen. Als sie zu hüpfen anfangen, wippt die ganze Bahn. Das ist der Moment, in dem sich der Öffentlichkeitsmuffel entscheiden muss: Soll er sich ärgern und auf das schnelle Ende der Fahrt hoffen? Oder soll er sich auf die Situation einlassen? Tut er das, wird die Fahrt zu einem wundervollen Erlebnis.

An der nächsten Haltestelle steigen einige wenige aus und etliche brasilianische Fans ein. Kaum haben sie den Zug betreten, begegnen sie den kroatischen Schlachtrufen mit rhythmischen Gesängen. Die Anhänger des Rekordweltmeisters haben Trommeln und Tröten dabei. Zu der Musik, die sie damit machen, fangen die Ersten an, sich zu bewegen. Tanzen würde man es nennen, wenn mehr Platz da wäre. Männer mit nackten Oberkörpern trinken Bier und schwitzen wie im Dampfbad. „Sauna inklusive“ hört man in Englisch mit breitem Londoner Akzent. Ein Brasilianer wedelt sich und anderen mit seinem großen Hut etwas Luft zu. Spätestens jetzt ist jeder im Waggon Teil des Geschehens, nimmt einen Schluck aus der Pulle des Nachbarn und versucht, seine Ansichten über das Spiel und Fußball im Allgemeinen in irgendeiner Sprache mitzuteilen. Nebenan unterhält sich eine Gruppe gelb gekleideter Männer in gutem Deutsch. Es sind Berliner in Trikots der „Selecao“. Gäste und Freunde haben sich hier vermischt zu einer großen Gruppe, die getragen wird von einer Welle der Fröhlichkeit. Die Freude, dabei zu sein, die WM zu erleben, verbindet alle.

Der Zug hält am Olympiastadion. Die Musik wird immer lauter. Fans der Kontrahenten auf dem Platz umarmen sich, machen Fotos zusammen. Mitten in einer bunten Menge feiernder Männer, Frauen und Kinder läuft der sonst die Menge und Öffentlichkeit scheuende Mensch den Weg zum Stadion. Er genießt den Moment, der so aufgeladen und spürbar einmalig ist und wünscht sich, ein wenig Portugiesisch oder Kroatisch zu verstehen, um komplett in der Menge aufzugehen.

Deutschland spielt auch wieder. Er wird den Moment vielleicht wieder suchen. In der Bahn oder sonst wo.

NIELS MÜLLER