Der lange Weg aus dem Abseits

In Hamburg beginnt heute die „WM der Asylsuchenden“. Bis zum nächsten Dienstag treten 168 nicht dauerhaft Aufenthaltsberechtigte auf dem Rasen gegeneinander an. Initiiert wird das Turnier von Privatleuten, die das Weltmeisterschafts-Motto wörtlich nehmen: „Die Welt zu Gast bei Freunden“

von ANDREA MERTES

Der Tag, an dem Hassan Esmaeli zum Training geht, ist ein Tag, an dem andere Kinder mit ihren Eltern einen Ausflug machen. Ein Sommertag, ein Sonntag obendrein. Heiß, wolkenloser Himmel. Die Eisläden sind brechend voll, auf den Kanälen paddeln Familien in Mietbötchen. Andere haben ihr Auto gepackt und fahren ans Meer, nach Timmendorf, nach St. Peter Ording. Hassan Esmaeli, 13 Jahre alt, wird die Strände von Nord- oder Ostsee niemals sehen. Nicht, wenn es nach dem Willen der Hansestadt Hamburg geht. Hier leben Hassan und seine Familie seit sieben Jahren als Menschen, deren „Abschiebung vorübergehend ausgesetzt“ ist. Alle sechs Monate müssen sie zur Ausländerbehörde gehen und dort eine neue „Aussetzung“ beantragen. Die Esmaelis kommen aus Afghanistan. Und hier sind sie nur geduldet.

„Duldung“ nennt das deutsche Aufenthaltsrecht eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ von ausreisepflichtigen Ausländern. In der Praxis stellt sie den schwächsten der Aufenthaltstitel dar, de jure ist sie gar keiner. Die Duldung beinhaltet keine Arbeitserlaubnis, lediglich im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung dürfen Geduldete arbeiten. Eine Duldung erhält, wer Deutschland verlassen muss, aber – noch – nicht abgeschoben werden kann, zum Beispiel weil kein Pass vorliegt, wegen einer Erkrankung – oder weil es keinen Weg gibt, eine Kriegsregion anzufliegen.

Nicht mal Eis essen gehen

In Deutschland leben rund 200.000 geduldete Menschen, die Hälfte seit mehr als zehn Jahren. Inhaber einer Duldung dürfen sich nach Paragraph 61 des Aufenthaltsgesetzes nur in ihrem Bundesland aufhalten. Weil Hassan in Hamburg geduldet ist, darf er die Landesgrenzen nicht überschreiten. Er wird mit seiner Familie niemals auf der Alster paddeln, wohl nicht einmal ein Eis essen gehen. Erstens, weil seine sechsköpfige Familie im Monat 1.100 Euro zum Leben hat, da sind schon 60 Cent für eine Eiskugel viel Geld. Zweitens, weil Hassans Mutter ein Problem hat mit Menschenansammlungen und buntem Stimmengewirr.

All das zählt in diesem Augenblick nicht. Denn Hassan geht zum Training. Er liebt Fußball. Wie die meisten 13-Jährigen würde er am liebsten Profispieler werden. Nur wenige dieser Träume werden Wirklichkeit. Bei Hassan aber würde es an ein Wunder grenzen. Denn, Talent oder nicht: Hassan gehört nirgendwo hin. Bis vor kurzem hatte er ja nicht einmal einen Verein. Immerhin das ist jetzt anders: Hassan ist Mitglied des „FC Multikulti“ und trainiert sonntags zwischen 15 und 18 Uhr auf einem Bauspielplatz. Dem FC Multikulti ist ein kurzes Leben beschieden, nach dem 20. Juni wird er sich wohl wieder auflösen. Aber bis dahin ist Hassan Mitglied einer Gemeinschaft, die ihn trägt. Sie wird auch die Fahrtkosten übernehmen, wenn Hassan das vielleicht internationalste Turnier seines Lebens spielt: Es beginnt heute mit einem Eröffnungsfest und endet am kommenden Dienstagabend mit der Siegerehrung. Hassan ist einer von 168 Teilnehmern des Fußball-Turniers „Abseits“, der „WM der Asylsuchenden“ in Hamburg.

Leben in Wartestellung

Asylsuchende oder Asylbewerber sind Menschen, die sich im Asylverfahren befinden. Im ersten Jahr ihres Aufenthalts ist das Arbeiten verboten, danach stark eingeschränkt. Die Sozialleistungen sind rund 30 Prozent niedriger als für Deutsche. Asylsuchende müssen in den ihnen zugewiesenen Unterkünften wohnen und dürfen ihren Aufenthaltsort nicht ohne Erlaubnis verlassen. Asylgesuche von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen gelten in Deutschland als „offensichtlich unbegründet“, wenn keine staatliche Verfolgung nachgewiesen werden kann. Die Anerkennungsquote lag 2005 unter fünf Prozent und ist eine der niedrigsten in Europa.

Die WM der Asylsuchenden ist eine Initiative von Privatpersonen, die das Fifa-Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ wörtlich genommen haben. Sie wollen auf die Situation der Asylbewerber in Deutschland aufmerksam machen. Nicht nur auf die ständige Angst vor Abschiebung, sondern auf ein Leben in Wartestellung, das niemals endet, auf Frustration, unbewältigte Traumata und Isolation. Die meisten der Hamburger Asylbewerber wohnen in den Randzonen der Stadt, in Pavillondörfern, zu zweit auf 14 Quadratmetern, sechs Personen teilen sich Küche und Bad.

Hassans Familie ist eine Ausnahme: Sie lebt seit vier Monaten im hübschen Stadtteil Winterhude, sechs Personen in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Denn die Familie ist ein Härtefall – auch, weil Afghanistan die Familie gezeichnet hat. Vor allem Hassans Mutter: Zahra Esmaeli spricht so gut wie kein Deutsch. Einen Sprachkurs wollte sie beginnen, sobald sie eine Perspektive in Deutschland bekommt. Diese Perspektive dauerte aber immer nur sechs Monate. Deshalb übersetzt eine Verwandte, was Zahra Esmaeli zu erzählen hat. Über die Vergangenheit ist es nicht viel. Im Wesentlichen, dass sie im Krieg gelebt hat, seit sie Kind war. Dass Hassan im Iran geboren wurde, weil die Familie im Grenzgebiet hin- und hergependelt ist, je nach dem Stand der Tagespolitik. Iran hat die Afghanen immer wieder über die Grenze zurückgeschickt, und eines Tages haben die Esmaelis die Flucht angetreten, in einem verschlossenen, abgedunkelten Auto, über Länder, deren Namen sie nie erfuhr.

Stille Tränen, weggewischt

Zahra Esmaeli weiß nicht, wie lange die Reise gedauert hat. Das Zeitgefühl für diesen Teil ihres Lebens scheint ihr abhanden gekommen. Es wirkt, als ob sie mit dem Thema aber abgeschlossen hat, sie bietet frischen Tee an. Deshalb gibt es nicht diesen einen Moment, diese eine Frage, die alles ändert. Plötzlich aber, im Rücken ihrer Nichte, beginnt Hassans Mutter zu weinen. Es sind stille Tränen, weggewischt, bevor sie die Wange hinterlaufen. Aus Zarah Esmaeli pressen sich Sätze, die gesagt werden wollen. Dass sie innerlich kaputt sei, dass sie sich selbst nicht mehr liebt. Ihre Mutter ist in Afghanistans endlosem Krieg gestorben, der 20-jährige Neffe verschollen.

Man weiß, dass Menschen dort verschleppt und verkauft werden. Sie werden missbraucht, für Organspenden getötet. „Wenn du in Deutschland gelebt hast, weißt du, was Leben bedeutet.“ Sie will, dass wenigstens ihre Kinder eine Chance auf ein Leben haben. Sie selbst hatte diese Chance nicht. Heute erträgt sie keine Orte mehr, an denen es laut zugeht. Und auch keine langen Gespräche. Familienausflüge in den Trubel von Eisläden und Alsterkanälen verbieten sich von selbst.

Ob Zahra Esmaeli ihm zuschauen wird, wenn Hassans FC Multikulti am Samstagnachmittag auf den „FC Freundschaft“ trifft, sie weiß es noch nicht. Es ist eine lange Fahrt aus dem Leben aus dem Abseits ins Leben.