Kommt kuscheln!

Von der alles verändernden Kraft des Torerfolgs: Kann das Glück des 1:0-Siegs gegen Paraguay eine bislang zerstrittene schwedische Nationalmannschaft harmonisieren und durchs Turnier tragen?

AUS BERLIN RONALD RENG

Nachts um halb eins, die riesigen Kopfhörer seines tragbaren CD-Players um den Hals, stieg Freddie Ljungberg noch einmal hoch zum Kopfball. Er hob nur ein klein wenig ab vom Boden, er nickte nur kurz mit dem Kopf, aber das genügte, denn ein Ball war nicht in der Nähe und die Demonstration in den Katakomben des Berliner Olympiastadion deutlich genug: So schlecht, zeigte Freddie Ljungberg, köpfe er normalerweise. „Das einzige Kopfballtor, das ich zuvor für die Nationalelf erzielte, war 1998 bei meinem Debüt gegen Dänemark. Da stand ich zehn Zentimeter von der Torlinie entfernt.“

Es ist wahrlich keine Neuigkeit, dass das Tor die Essenz des Fußballs ist. Und doch lässt sich die umwerfende Kraft eines Tores nicht alle Tage so deutlich spüren wie in der Donnerstagnacht, als Mittelfeldspieler Ljungberg eine Minute vor Abpfiff mit einem durchaus gekonnten Kopfstoß das Siegtor zum 1:0 für Schweden gegen Paraguay markierte. Ein Tor ist der Augenblick, in dem alles anders wird, ein Tor liefert Menschen ihren Gefühlen aus – ein Tor heißt Sein oder Nichtsein.

Auch heute ist die volle Wirkung von Ljungbergs Treffer noch nicht abzusehen. Klar ist nur: Schweden wäre ohne das Tor dem Weltmeisterschaftsaus in der Vorrunde ganz nah gewesen, mit dem Tor ist es fast schon vor dem letzten Gruppenspiel am Dienstag in Köln gegen England für das Achtelfinale qualifiziert, wo entweder Deutschland oder Ecuador wartet. Doch ein Tor kann ein Team auch befreien. So wird die schwedische Elf in den kommenden Tagen auch unter dem Aspekt eines Feldversuchs zu betrachten sein: Wird das Glück sie tragen?

Dieses Tor nahm ein langen, kurvigen Weg, bis es endlich zu ihnen kam. Ljungberg, der sich im Mittelfeld von Arsenal London und als der Mann in Unterhose auf Werbefotos für Calvin Klein einen Namen gemacht hat, kam noch während des Spiels gegen Paraguay der Gedanke: „Es wird nie fallen. Wir können einfach nicht treffen.“ In den drei Testspielen zur WM gelang nur ein einziges Tor, Henrik Larsson traf gegen Chile, allerdings nur per Freistoß. Beim 0:0 im ersten WM-Spiel gegen Trinidad verschleuderten sie unzählige Möglichkeiten, gegen Paraguay spielten sie zwar energischer, mit besserem Passspiel, aber 89 Minuten mit demselben Resultat.

Aber das Glück lässt eine Elf nie grundlos so lange im Stich. Trainer Lars Lagerbäck gestand: „Es gibt einen Grund, warum wir nicht treffen. Unsere Versuche sind nicht gut genug.“ Fußball kann alle Menschen gleich machen: Zwischen Zlatan Ibrahimovic, dem der Zusatz Weltklasse anhängt, und Marcus Allbäck, der bei einem Gastspiel bei Hansa Rostock vor zwei Jahren schon seine Schwankungen vor dem Tor bewiesen hat, gibt es zurzeit keinen Unterschied. Der eine zielt so schlecht wie der andere.

Der Verdacht, dass sich diese für schwedische Verhältnisse außergewöhnlich begabte Elf seit ihrem gelungenen Auftritt bei der EM 2004 eher rückwärts entwickelt hat, verstärkte sich in Deutschland bislang. Das Spiel aus der Abwehr heraus leidet unter dem Rücktritt des früheren Rostockers Andreas Jakobsson. Ljungberg hatte nach dem Spiel gegen Trinidad Kapitän Olof Mellberg angeschrien, was es solle, jedes Mal konzeptlos langsame, hohe Pässe nach vorn zu bolzen. Gegen Paraguay flog nach 30 Sekunden der erste planlose Ball aus der Abwehr – von Mellbergs Partner Teddy Lucic. Doch es sollte fast der einzige Holzhackerpass bleiben. Etwas wurde besser in Berlin.

Langsam und überwältigt ging die gesamte Mannschaft nach dem Schlusspfiff noch einmal am Tor vorbei. Aber niemand würdigte es eines Blickes. Sie hatten nur Augen für Gelb, für 50.000 Schweden, bei denen sie sich bedankten. Das größte Stadion in Schweden, das Ullevi in Göteborg, fasst nur 43.000. Das Tor hatte sich den richtigen Tag ausgesucht, um zur schwedischen Elf zurückzukommen. „Ich habe noch nie so eine Glücksexplosion gespürt“, sagte Allbäck. Ein Tor verändert, ein Tor macht wahnsinnig. „Ich lag mit Ljungberg jubelnd am Boden“, erzählte Allbäck weiter, „der Schiedsrichter kam zu uns, wir sollten schnell machen, weiterspielen. Da habe ich mich nur noch fester an Freddie gekrallt. Ich dachte: Freddy, lass uns noch ein bisschen kuscheln!“