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Mit Alzheimer und Picknickkorb

„Neue Stücke aus Europa“ kommen zur Theaterbiennale nach Wiesbaden. Düster waren die Aussichten gleich in der ersten Nacht: Vom Elend des Alters und dem Zusammenbruch des Gesundheitssytems erzählten Theater aus Russland und Serbien

Heuschrecken sind die Alten wie die Jungen. Vertilgt und mehrfach verdaut haben sie ihre Ideale und ihre Liebesfähigkeit

VON KRISTIN BECKER

Die Grenzen Europas stecken in einer kleinen schwarzen Box, die sich jeder Zuschauer vor Spielbeginn auf der Wiesbadener Theaterbiennale erkämpfen muss: ein kopfhörerbestücktes Empfangsgerät, das die deutschte Simultanübertragung der internationalen Gastspiele in die Ohren der Sprachunmächtigen trägt. Denn das Festival „Neue Stücke aus Europa“ widmet sich nicht nur den Formen, sondern auch der Sprachvielfalt unseres Kontinents und zieht dabei unbeschwert weite Kreise: Zwischen Atlantikküste und Ural, Nordmeer und Bosporus sind dieses Jahr 22 Länder mit 29 Produktionen vertreten.

Programmatisch eröffnete die Biennale am Donnerstag gleich mit vier Stücken aus Holland, der Türkei, Russland und Serbien. Von dort kommt einer der Stars und Stammgäste des Festivals, die serbische Autorin Biljana Srbljanović, deren Stück „Skakavci“ („Heuschrecken“) den Auftakt im Kleinen Haus einläutete. In Stuttgart wurde im April nicht ganz überzeugend die deutsche Erstaufführung eingerichtet, in Wiesbaden gönnte man sich nun die letztjährige Uraufführung vom Jugoslawischen Drama-Theater aus Belgrad. Dejan Mijač, eine feste Größe des kritischen serbischen Theaters, hat das Stück schnörkellos inszeniert. Ein Stuhl, ein Tisch, ein Ort. Nüchterne Funktionalität bestimmt die Szenerie, und nur die Rückprojektionen mit ihren verträumten Bildern weisen über den gestrafften Realismus hinaus. Nach kurzer Zeit weiß man, dass Schmetterlinge auf der Leinwand die nächste Familienszene mit Dada, der schwangeren Fernsehschönheit, und Milan, dem hässlich-dumpfen Frühpensionär begleiten. Milans Problem ist, dass er weder seinem Vater, dem geizigen Dauerlottospieler, noch seiner Tochter Alegra, einem verschlagenen, vaterhassenden Mamakind, ein wenig Achtung abzutrotzen vermag.

Schrecklich nett diese Familie. Und Prototyp für alle zwischenmenschlichen Beziehungen in „Skakavci“, das von der Aufkündigung des Generationenvertrags erzählt und damit eine Angst berührt, die vor dem Alter, die auch hier so unbekannt nicht ist. Fredi, der schwule Arzt, setzt seinen Vater mit Alzheimer und einem Picknickkorb an der Autobahn aus. Zana, seine Kollegin, animiert ihre Mutter zum Treppensturz. Dada spekuliert auf den Tod von Milans Vater. Heuschrecken sind die Alten wie die Jungen. Vertilgt und mehrfach verdaut haben sie ihre Ideale und ihre Liebesfähigkeit, und gierig warten sie darauf, auch ihren Nächsten noch die letzten Hoffnungen wegzufressen. Eine herausragende Schauspielerin der Belgrader Inszenierung ist Isidora Minić als Nadežda, die überschwänglich Lebenslust verteilt, die keine der anderen Figuren verdient, und damit jede Szene aus ihrer realistischen Trägheit herausreißt.

Srbljanović hat „Skakavci“ als Episodenstück angelegt, das eigentlich fast besser als Lesetext funktioniert, weil die (selbst)ironischen Kommentare, die die Autorin in den Nebentext webt, bei Inszenierungen wohl zwangsläufig verloren gehen. Mijac’ Inszenierung bewegt sich sehr nah am Text und an theatralischer Konvention. Jenseits der Werktreue tragen die serbischen Schauspieler mit ihren Körpern aber noch eine unausgesprochene Dimension in ihr Spiel. Vor der Zeit gealtert scheinen sie alle, und hinter der „Normalität“, die der Text entwirft, steht ein Erfahrungshorizont, der jeder Vorstellung von der Möglichkeit des Normalen eklatant widerspricht. Wenn also im Stück bei Schnittchen und Wein Bosheiten ausgetauscht werden, wirkt das zunächst sehr gediegen bürgerlich und sehr westeuropäisch, nur dass ein kleiner Witz um Milans Massakervergangenheit im Kontext einer serbischen Produktion eine andere Färbung bekommt.

Die russische Produktion „Dok.tor“ am gleichen Abend beschränkte sich auf eine einzige Farbe: Weiß ist der Schnee in der entfernten russischen Provinz und weiß ist der Kittel, mit dem ein junger Arzt seinen ersten Dienst in dieser Entlegenheit antritt. Seit 2002 produziert das bemerkenswerte Moskauer Teatr.doc dokumentarische Theaterstücke, die russische Realitäten ohne den Ballast der klassischen Autoren auf die Bühne bringen. „Dok.tor“ präsentiert sich als virtuoser Abgesang auf das Gesundheitssystem. Die wichtigste krankenhaustechnische Grundausstattung – Operationsbesteck, Wodkagläser und saure Gurken – hängt als Mobiles von der Decke. In einer rasanten Stunde erzählt die großartige Collage zwischen Techno, Pop, Akkordeon und Sprechgesang von den Widrigkeiten einer medizinischen Versorgung, der es nicht nur an Personal und Gerätschaften mangelt, sondern bei der auch die Moral schwindet, „weil es die ganze Zeit immer nur schlimmer wird“.

Gut, rostige Sägen bei der Amputation von Beinen muss man hier noch nicht befürchten, aber ohne Zweifel spielt das Wissen, wie die Gesundheit auch hier zum Spielball von Politik und Interessengruppen geworden ist, in das Interesse und Mitgefühl hinein, die man dieser russischen Produktion entgegenbringt. Bestimmte Missstände scheinen sich länderübergreifend auszudehnen, und am Körper des Menschen schlägt sich der Abbau der Sozialsysteme schnell und schmerzhaft nieder. So zeigten sich „Dok.tor“ und „Skakavci“ gleich zu Beginn des Festivals als Idealbeispiele für den Anspruch, Veränderungen der Gesellschaft zu beobachten, den sich die Biennale neben der Grenzüberschreitung auf die Fahnen geschrieben hat.

Neue Stücke aus Europa, Theaterbiennale des Staatstheaters Wiesbaden, bis 25. Juni 2006. www.staatstheater-wiesbaden.de/biennale

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