Der Zeit gemäß

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat ein Literaturportal für den deutschen Sprachraum ausgearbeitet. Es bietet Autorenporträts, Veranstaltungstipps, online abrufbare Autorenlesungen und Links zu anderen literarischen Websites

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach ist eine Einrichtung des Kalten Krieges. 1955 gegründet und seither damit befasst, Dokumente und Texte der neueren deutschen Literatur zu sammeln, zu erschließen und einer literarisch interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, muss sich die Institution seit 1989 verstärkt mit der Frage nach ihrer Legitimation auseinandersetzen: Wie kanalisiert man jetzt, nach dem Fall der Mauer, das Interesse an der Literatur und wie präsentiert man sich als Deutsches Literaturarchiv der Öffentlichkeit?

Zum einen in dem neuen, letzte Woche eröffneten Literaturmuseum der Moderne auf der Schillerhöhe in Marbach. Zum anderen aber, und das ist noch neuer, im Internet. Am Donnerstag hat der Kulturstaatsminister Bernd Neumann in Berlin ein virtuelles Literaturportal für den deutschen Sprachraum eröffnet, das vom Deutschen Literaturarchiv Marbach erdacht und in Kooperation mit Institutionen wie dem Goethe-Institut und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ins Leben gerufen wurde. Wenn sich Marbach also zeitgemäß zentralisiert, dann vor allem virtuell.

Das neue Literaturportal versteht sich als Service für Lesende. Es bietet neben Autorenporträts und Kurzbiografien, neben online abrufbaren Autorenlesungen und Links zu anderen literarischen Webseiten vor allem eine umfangreiche Kalenderfunktion: Jeden Tag können sich Literaturinteressierte überall in Deutschland über literarische Termine und Veranstaltungen ebenfalls überall in Deutschland informieren – eine Ausweitung auf den gesamten deutschen Sprachraum, also eine Beteiligung Österreichs und der Schweiz ist geplant.

Dennoch – bei aller Zeitgemäßheit erschließt sich der Sinn dieser Zentralisierung nicht sofort: Kaum ein noch so begeisterter Leser in Berlin wird schließlich dauerhaft ein Interesse an literarischen Veranstaltungen in München oder Stuttgart haben. Hier hat bisher der örtliche Veranstaltungskalender genügt, und das wird er in den meisten Fällen auch weiter tun. Wenn allerdings der Direktor des Deutschen Literaturarchivs, Ulrich Raulff, das neue Literaturportal bei seiner Freischaltung in Berlin als eine „Litfaßsäule mit Gedächtnis“ bezeichnete, deutet er damit auf eine zusätzliche Aufgabe der neuen Seiten hin, deren Funktion sich eben nicht in einem letztlich redundanten, weil bloß erweiterten Veranstaltungskalender erschöpft. Es geht bei dem neuen Literaturportal tatsächlich vor allem auch um die Archivierung von literarischem Alltag.

Alle Termine, die künftig im Veranstaltungskalender des Literaturportals erscheinen werden – die Organisation der Seiten soll dezentral stattfinden, also so, dass die beteiligten Institutionen ihre Hinweise selbst einspeisen –, alle diese Termine werden dadurch automatisch auch archiviert. Das neue Portal ist deshalb im Grunde nur eine konsequente Fortsetzung dessen, was man in Marbach immer schon betrieben hat. Raulff spricht in diesem Zusammenhang sogar von der „virtuellen Geschichtsschreibung“, die durch das Literaturportal ermöglicht werde, und da wird deutlich, dass das Literaturarchiv mit diesem Portal letztlich weit mehr will, als nur die oberflächliche Zentralisierung von Terminen zu gewährleisten.

Die Marbacher Offensive ist in gewisser Hinsicht eine Offensive um ihrer selbst willen: Das Literaturportal dokumentiert, dass man sich der Herausforderung durch die neuen Medien stellen möchte, und es schafft eine Plattform, die es eines Tages vielleicht mit dem diffusen Phänomen der „Literatur im Netz“ und mit deren Archivierung aufnehmen kann. Letztlich bleibt die ganze Geschichte damit eine institutionelle Frage: Mit dem Portal, das durch die Auswahl seiner Veranstaltungen und Autoren immer auch kanonisierend wirken wird, sichert sich Marbach den Zugriff auf diese Literatur im Netz und dadurch nicht zuletzt auch eine gewisse Deutungshoheit über sie. ANNE KRAUME