Jenseits von Ostalgie

70 Schülern diskutierten mit Bundespräsident Horst Köhler in Bonn die dunklen Seiten der DDR Diktatur

Über die kritische Grundhaltung der Schüler schien Bundespräsident Köhler erleichtert zu sein.

Der Applaus ist verhallt. Totenstille. Niemand will Bundespräsident Horst Köhler die erste Frage stellen. Rund 70 Schüler rutschen nachdenklich auf ihren Sesseln hin und her. Der Film „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck bedrückt. Er erzählt, wie die Stasi DDR-Schriftsteller ausspionierte und wie systematisch der Apparat der Bespitzelung funktionierte. So haben die meisten Jugendlichen die DDR noch nicht gesehen. Auch Horst Köhler und Marianne Birthler, die Bundesbeauftragte für Stasi-Akten, gehen die ersten Worte nur schwer über die Lippen.

Der oberste Repräsentant des Staates begann mal mit einem Lob: „Es ist wichtig, dass nicht nur Filme wie Good Bye Lenin das DDR-Bild der jungen Generation prägen“, sagt Köhler. Donnersmarcks preisgekrönter Film ist auch anders als die Komödien, die seit Ende der 1990er Jahre für eine nostalgische Verklärung des DDR-Alltags sorgen und im Westen einen Boom der Ossi-Shops auslösten. In „Das Leben der Anderen“ ist nicht der Normalbürger der Held, der trotz widriger Umstände triumphiert. Hauptperson ist hier der Stasi-Spitzel, der Abhörprotokolle manipuliert, um einen kritischen Schriftsteller vor dem Gefängnis zu bewahren, und sich damit in Gefahr bringt. Die Jugendlichen dürften nicht vergessen, dass der einzelne Mensch im System der DDR wenig zählte, sagt Köhler.

Tatsächlich waren die Schüler sichtlich betroffen, als sie die Menschen verachtenden Stasi-Methoden sahen. Dennoch hinterfragten sie den Film kritisch und wollten den Unterschied zwischen der fiktiven Handlung im Film und der Realität klargestellt wissen. Die meisten von ihnen waren schließlich zur Wende gerade zwei Jahre alt und wollten etwas über diese Zeit lernen. Sie wollten kaum glauben, dass es tatsächlich möglich ist, in der Behörde von Marianne Birthler Namen von Stasi-Spitzeln zu bekommen, die damals das Leben anderer protokollierten. „Während die Spitzelsuche im Film nur zehn Minuten dauert, muss im wahren Leben mehr Zeit investiert werden“, klärte die Bundesbeauftragte sie auf. Aber die Namen seien zu bekommen. Dann wollten die Jugendlichen noch wissen, ob es für den couragierten Stasi-Spitzel im Film ein reales Vorbild gab. „Wir kennen nicht einen einzigen solchen Fall“, sagte Birthler. Innerhalb der Stasi habe es so viel Kontrolle gegeben, dass solches Handeln kaum möglich gewesen sei. Der Regisseur und Drehbuchautor Donnersmarck konterte: „Der Film soll die Hoffnung ausdrücken, dass es so einen Menschen wie im Film geben könnte“. Das musste die Figur transportieren.

Über die kritische Grundhaltung der Schüler schien Bundespräsident Köhler erleichtert zu sein. Eigentlich war er gekommen, um die Medienkompetenz des jungen Publikums zu fördern. Nur deswegen hatte er die Schirmherrschaft über die Veranstaltung übernommen. Doch er musste nicht viel Überzeugungsarbeit leisten. Die meisten Schüler hatten es längst begriffen, dass sie nicht alles glauben dürfen, was sie im Kino sehen. Einige kamen ernüchtert aus der Veranstaltung: „Der Film war super, aber die Zeit zur Diskussion war viel zu kurz“, resümierte Paul Rogalla vom Leverkusener Werner-Heisenberg Gymnasium. Regisseur Donnersmarck hingegen war zufrieden. Besonders freute ihn das filmtechnische Interesse der Jugendlichen und die Haltung des Bundespräsidenten: „Köhler hat klug und nicht zu vorsichtig die Diktatur auch tatsächlich als Diktatur bezeichnet.“ STEPHAN GROßE