Die erotische Begabung des Jesustiers

EQUUS ASINUS Ohne ihn geht nichts, schon gar nicht an Weihnachten. Dabei ist die Kulturgeschichte des Esels voller Widersprüche: Er erscheint als demütiges Reittier mit minderer Intelligenz, aber auch als begehrenswerter Liebhaber und moderner Denker

VON JUTTA PERSON

Nichts gegen den Ochsen. Aber der Esel ist im weihnachtlichen Stall dann doch der Prominentere, Flauschigere und Vertrautere der beiden – vor allem, wenn man bedenkt, dass er sowohl im Alten als auch im Neuen Testament eine kaum zu unterschätzende Rolle spielt. Man könnte natürlich einwenden, dass das Lamm Gottes eine ernstzunehmende Konkurrenz darstellt, wenn es um Sanftmut, Gewaltverzicht und damit um größtmögliche symbolische Nähe zum Gottessohn geht. Trotzdem ist es der Esel, der wie kein anderes Tier das Bild vom christlichen Friedensfürsten und sanftmütigen König geprägt hat: Jesus zieht auf einem Esel in Jerusalem ein und macht damit deutlich, dass er kein Streitross nötig hat. Er will auch nicht als Eroberer gelten, zumindest nicht als einer, der auf konventionelles Kriegsgerät zurückgreifen müsste.

Das Pferd wurde immer schon als Kriegstier eingesetzt – das Streitross Alexanders des Großen zum Beispiel wirkte fast genauso prunkvoll und waffenstarrend wie sein Herr –, der Esel dagegen war das Transportmittel der Zivilisten und Friedliebenden. Ein Hippietier, könnte man meinen. Dem widerspricht allerdings eine nicht ganz so hippiekonforme Demutsvorstellung, die der Prophet Zacharias für den König der Zukunft im Alten Testament ankündigt: „Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel.“ Diese Prophezeiung wird Jesus dann laut Matthäus, Markus, Lukas und Johannes erfüllen. So wird der Esel im Christentum im ganz wörtlichen Sinn zum Träger einer Demutsidee, die den Reiter mit dem Reittier verbindet.

Das schwarze Fellkreuz, der sogenannte Aalstrich, den die meisten Hausesel sichtbar auf dem Rücken tragen, wurde im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als Auszeichnung verstanden: Weil der Gottessohn auf einem Esel in Jerusalem eingeritten war, kam dem Tier die Ehre zu, sich mit einem Kreuz im Fell schmücken zu dürfen. Der schwarze Aalstrich ist aber nicht unbedingt sein bekanntestes Merkmal. Beim Esel denkt man wohl zuerst an andere Auffälligkeiten: seine langen Ohren zum Beispiel.

Ein Wunder der Natur

Eselsohren sind ein Wunder der Natur. Sie sind dreh- und schwenkbar, erreichen einen riesigen Radius und können auch einzeln rotieren. Sie sind auf fantastische Weise vieldeutig. Mit seinen langen Ohren hört der Esel nicht nur die Umgebung nach Freunden und Feinden ab, er kann mit ihnen auch seine Stimmung anzeigen: die Ohren hängen oder spielen lassen, stellen, drehen oder einzeln abknicken. Etwas Propellerartiges und damit Maschinenähnliches haftet ihnen an, fast so, als ob die Ohren ein Eigenleben führten und der Esel im nächsten Augenblick auch abheben könnte. An den fliegenden Esel, den „asino volante“, zu glauben, bedeutet im Italienischen, sich alles erzählen zu lassen. Aber immerhin fliegen diese Leichtgläubigen einem unbekannten Flugobjekt hinterher, anstatt, wie im Deutschen, von einem aufgebundenen Bären auf den Boden gedrückt zu werden.

Vor allem aber sind Eselsohren in auffälliger Weise asymmetrisch. Wenn ein Esel ein einzelnes Ohr schräg stellt, eins nach vorne, eins nach hinten, oder eins nach oben, eins nach unten kippt, wenn also das rechte Ohr scheinbar nicht weiß, was das linke tut, dann fühlen sich Freunde des Ebenmaßes aus dem Gleichgewicht gebracht. Symmetrie gilt als schön, Asymmetrie im besten Fall als komisch. Dazu kommt die Länge, denn wie alle auffällig geformten, irgendwie aus der Reihe tanzenden Organe wurde auch das lange Ohr eher argwöhnisch als wohlwollend betrachtet. Jahrhundertelang waren die Narrenkappen mit Eselsohren ausstaffiert. Langohrigkeit ist, quer durch das Tier- und Menschenreich, ein Problem. Das gute Gehör der Langohrigen mutierte zum Zeichen der Dummheit und Furchtsamkeit; Angreifer stellte man sich anders vor, jedenfalls nicht mit langen, im Wind flatternden Ohren.

Der Maler und Naturphilosoph Carl Gustav Carus sah im großen Ohr – vom Hasen über den Esel bis zur geöhrten Fledermaus – ein Zeichen geringerer geistiger Energie. Theodor Lessing, der Publizist und Kulturkritiker der Weimarer Republik, unterstellte dem Kaninchen wegen seiner langen Ohren „blumige Doofheit“. Und Friedrich Nietzsche, einer der entschiedensten Langohrverächter, legte besonderen Wert auf seine kleinen Ohren und nannte sich selbst einen „Antiesel“. Lange Ohren haben einfach einen schweren Stand. Möglicherweise wurde der Esel auch deshalb zum Misfit: Seine Ohren waren einfach zu weit entfernt von der goldenen Mitte.

Der Esel wurde allerdings nicht nur wegen seiner Langohrigkeit zu den weniger schönen und weniger intelligenten Tieren gerechnet. Auch seine Neigung zum Stehenbleiben, seine Indolenz und seine geringe Aggressivität hat man ihm negativ ausgelegt. Gleichzeitig, und das macht die Angelegenheit komplex, hat sich aus der Antike ein durch und durch positives Eseltum erhalten. Der Esel galt immer auch als starkes und potentes Tier. Die Silene der griechischen Mythologie, Mischwesen aus Mensch und Tier, waren oft mit Eselgliedmaßen ausgestattet, und Lukios, der Held aus der Esel-Geschichte des griechischen Satirikers Lukian, schläft als Esel mit einer vornehmen Dame. Als Mensch lässt sie ihn einfach stehen: „Ich liebte damals fürwahr nicht dich, sondern deinen Esel.“ Ähnlich geht es dem verwandelten Helden im Goldenen Esel des römischen Schriftstellers Apuleius: Er wird zum Liebhaber seiner reichen, zoophilen Gönnerin.

Herr und Knecht

Es ist, als ob sich jedes Eselklischee in sein Gegenteil verwandeln ließe. Das Christentum überschreibt die erotische Begabung des Esels, indem es ihn zum demütigen Tier werden lässt, das den Gottessohn auf seinem Rücken trägt. Aber in der leidenden Kreatur lebt der Mythos der Antike heimlich weiter. Dazu kommt, dass ein störrischer Stehenbleiber gleichzeitig ein fügsamer Dulder sein soll. Doch das angeblich dumme Tier wird zumindest in manchen Epochen auch als Gelehrter gefeiert. Es gibt Lobgesänge auf den Esel, Fabeln und Bilder bebrillter Eselakademiker. Sicherlich nicht nur aus Hohn oder Spott. Schließlich wehrt sich sogar der ewige Dulder gegen seine Unterdrücker – wie etwa der arme Mülleresel bei den Bremer Stadtmusikanten, der sein Joch abschüttelt und einen unglaublich modernen Satz sagt: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall. Möglicherweise haben all diese Umkehrungen ins Gegenteil auch damit zu tun, dass Esel und Mensch schon Tausende von Jahren zusammenleben – und dass, wie in jedem langen Herr-und-Knecht-Verhältnis, am Ende keiner mehr für sich, aber auch keiner mehr ohne den anderen sein kann.

Bei ihren Herren bestattet

Das Mensch-Esel-Verhältnis besteht seit fünf-, sechs- oder siebentausend Jahren, manche Equidenforscher setzen die Domestikation sogar noch früher an. Der Hausesel stammt vom afrikanischen Wildesel ab, der auch heute noch in Nordostafrika lebt. Anfänge und Verlauf der Esel-Domestikation sind allerdings nach wie vor umstritten. Mit dem geschätzten Beginn der Haustierwerdung kam der Esel zwar nach Hund, Ziege, Schaf, Schwein und Rind, aber noch vor Pferd, Kamel und Dromedar. Die frühesten Zeugnisse domestizierter Esel sind ungefähr 5.000 Jahre alt. Auf der sogenannten Libyerpalette zum Beispiel, einer oberägyptischen Schieferplatte aus dem Reich von Hierakonpolis, sind Hausesel zu erkennen, die zwischen einer Reihe von Rindern und Schafen hintereinander herziehen. Und in verschiedenen ägyptischen Grabstätten hat man Eselknochen von domestizierten Tieren gefunden, die in der Nähe ihrer Herren bestattet wurden. Erst vor wenigen Jahren wurden in einem Pharaonengrab im oberägyptischen Abydos zehn Eselskelette entdeckt, die auf ein Alter von etwa 5.000 Jahren datiert wurden.

Die Geschichte der Eselhaltung und -pflege ist dann genauso wechselhaft und verblüffend wie die Geschichte der Eigenschaften, die man ihm im Lauf einiger Jahrtausende angedichtet hat. Im Vergleich zu Hund, Pferd oder Rind hat er sich einen deutlich größeren Sicherheitsabstand zu seinem Bezähmer bewahrt. Er wird nicht als bester Freund an der Leine vorgeführt, er endet nicht als Schlachtvieh (wenn man von eher seltener Eselsalami absieht), er kann sein Fell für sich behalten und er muss keine Dressurakte mit Steppschritten und geflochtener Mähne über sich ergehen lassen.

Seine Dummheit hat sich als Klugheit erwiesen. Sein Eigensinn ist trickreiche Eleganz. Als sanftmütiger König ist er unschlagbar. Er wertet, ohne großes Aufheben, alle Werte um. Vielleicht ist der Esel das vieldeutigste Tier überhaupt.

■ Von Jutta Person ist soeben „Esel. Ein Portrait“ erschienen. Herausgegeben von Judith Schalansky, Verlag Matthes & Seitz Berlin, 148 Seiten, 18 Euro