Die Nase braucht Ameisen

Die Regie steuert über 50 Solo-Parts. Dazu kommt noch der Chor. Die Oper „Die Nase“ von Dimitri Schostakowitsch wird also selten gespielt. Jetzt hatte sie dennoch Premiere im Essener Aalto-Theater

VON REGINE MÜLLER

Die Nase als prominenter Körperteil kommt eigentlich nur beim Menschen vor. Selbst unsere nächsten Verwandten, die Primaten besitzen keine richtige Nase. Nur bei den Nasenaffen tut sich – bei den männlichen Tieren – das Riechorgan besonders hervor, um Potenz und Attraktivität zu unterstreichen. Ansonsten haben Tiere Schnauzen und Menschen Nasen, mit denen sie meist unzufrieden sind. Ohne Nase aber ist der Mensch kein Mensch mehr. Auch davon handelt Dmitri Schostakowitschs erste Oper, die selten gespielt wird, nun aber im Essener Aalto-Theater Premiere hatte.

Warum die Bühnentauglichkeit der „Nase“ oft bezweifelt wurde, ahnt man bereits, bevor es losgeht: Für den Besetzungszettel braucht man fast eine Lupe, so eng ist er bedruckt. Weit über 50 Solorollen wollen besetzt sein, dazu Chor, Statisten und Balalaika-Spieler – ein Ameisengewimmel auf der Bühne. Wie eine russische Variante von Kafkas „Verwandlung“ liest sich die groteske Geschichte: der Kollegienassessor Kowaljoff erwacht eines Morgens ohne seine Nase. Auf der panischen Suche nach dem Organ erlebt Kowaljoff allerhand Drangsal durch proletarische Massen, staatliche Aufseher und Polizisten, die Nase lustwandelt derweil in Gestalt eines fülligen Staatsrates in der Stadt, bevor sie schließlich wieder zum Gesichtshöcker schrumpft und sich an ihren alten Platz in Kowaljoffs Gesicht zurück trollt. Die absurde Satire nach einer Novelle von Nikolai Gogol illustriert Schostakowitsch durch eine collagenartig splitternde Musik, die im Staccato einer erregten Alltagssprache ohne ordnende Motivstrukturen daher jagt. Das rastlose Tempo, die Schnitt- und Überblendtechnik seiner Partitur hat Schostakowitsch der Ästhetik des Stummfilms abgeschaut, die er als Kino- Organist absorbierte.

Die Kakophonie dieser Symphonie der Unterprivilegierten, die in Essen deutsch singen, scheint unregierbar. Intendant und GMD Stefan Soltesz gab auf der Premierenfeier zu, man habe das Werk musikalisch zunächst unterschätzt. Davon ist am Abend nichts zu spüren, im Gegenteil, die Präzision ist phänomenal, fast unwirklich, denn Soltesz und seinen Hundertschaften unterlaufen weder Wackler noch Unschärfen. Dabei riskiert Soltesz viel, denn er geht nicht auf die Nummer sicher einer ratternden Motorik, sondern gibt nach, lässt Raum für Leises, Melancholisches, sogar Tragisches.

Er folgt damit der Linie des Regisseurs Johannes Schaaf, der kein Mann der lauten Effekte ist. Schaaf nimmt die Groteske ernst und tappt nicht in die Falle überbietender Zuspitzung, die das Werk schon selbst bietet. Ohne verkrampfte Aktualisierungs-Mätzchen zeigt er tristes Schmuddel-Elend am Rande konstruktivistischer Raumkompositionen, die an den Purismus der russischen Avantgarde erinnern. Schaafs Personenregie arbeitet verschwenderisch: unendlich detail- und pointenreich bei den präzis umrissenen Hauptakteuren, fein choreografiert im Chaos der Massen. Wolfgang Kochs Kowaljoff ist ein glaubwürdiger Anti-Held, singt vorzüglich, mit heldischer Verve und ist in jeder Silbe verständlich. Ein Atem beraubender Abend mit großem Jubel, insbesondere für das Leitungsteam und den Hauptdarsteller.

Heute, 20:00 Uhr, Aalto-EssenInfos: 0201-8122201