Flussbehörden steuern um

Wegen des wachsenden Tidenhubs, zunehmender Baggergutmengen und des steigenden Meeresspiegels: neues Konzept zum Management der Elbe zwischen Hamburg und Cuxhaven

von GERNOT KNÖDLER

Man kennt das aus der Chaos-Theorie: Innerhalb bestimmter Grenzen schwingen Systeme auf stabile Weise. Wird eine Grenze um ein Quäntchen überschritten, verändert das System plötzlich seinen Charakter. Hamburgs Hafenbehörde Port Authority (HPA) musste erleben, wie sich die Sedimentmenge, die sie aus dem Hafen baggern musste, innerhalb von vier Jahren vervierfachte. Der Schock darüber hat die HPA wie auch die Wasser und Schifffahrtsdirektion des Bundes (WSD) zum Umdenken gebracht. Gestern stellten beide ein Konzept zur Diskussion, das eine nachhaltige Entwicklung der Tideelbe in den kommenden 100 Jahren ermöglichen soll.

Seit 1870 hat der Tidenhub, also der Abstand zwischen Hoch- und Niedrigwasser, am Pegel St. Pauli um 1,50 Meter zugelegt. „Wir wollen diesen Trend umkehren“, sagte der Hamburger Wirtschaftssenator Gunnar Uldall (CDU). Denn die Flut dringt mit zunehmender Wucht in den Mündungstrichter ein. Die Welle schwappt von Cuxhaven aus durch den Hamburger Hafen und endet erst am Stauwehr im schleswig-holsteinischen Geesthacht. Unterwegs nagt sie an den Uferbefestigungen, im Sturmflutfall bedroht sie die Deiche und sie transportiert mehr Sand und Schlick stromaufwärts, als die Elbe wieder wegspülen kann.

Was die Hamburger bis 2004 aus dem Hafen baggerten, schütteten sie stromabwärts einfach wieder in den Fluss. Von dort aus wurde es aber nicht wie vermutet ins Meer gespült, sondern in den Hafen zurückgeschwemmt. Ein Kreislauf, dessen Volumen durch neue Sedimente anschwoll bis zur Unbezahlbarkeit.

Erst eine Computersimulation der WSD machte den Leuten von der Port Authority klar, was da in der Elbe passierte. „Wir haben ein völlig neues Weltbild bekommen“, räumt Heinz Glindemann von der HPA ein. Habe man sich bisher auf den Hamburger Hoheitsbereich beschränkt, sei jetzt klar, dass die gesamte Tideelbe betrachtet werden müsse – von Geesthacht bis Helgoland. Die Hamburger planen nun, Sedimente in dem Gebiet so hin und her zu schaufeln, dass der Fluss bei möglichst geringem Aufwand für den Hafen nutzbar bleibt. „Dabei ist eine Lösung möglich, die für alle vorteilhaft ist“, versichert Wirtschaftssenator Uldall: Schifffahrt, Naturschutz, Tourismus, Wirtschaft, Fischerei, Landwirtschaft, Deichsicherheit.

Zur Vergrößerung des Tidenhubs haben nach Darstellung von HPA und WSD mehrere Faktoren beigetragen: die Elbvertiefungen, das Absperren vieler Nebenflüsse und das Eindeichen großer Gebiete. Mit der zunehmenden Dominanz der Flutwelle sind viele Flachwasserbereiche vor den Deichen verlandet, was das Problem verschärfte. Dazu kam der Anstieg des Meeresspiegels um 30 Zentimeter in den vergangenen 100 Jahren. Für die kommenden 100 Jahre rechnen Glindemann und Co. nochmal mit rund 80 Zentimetern.

WSD und HPA wollen jetzt künstliche Sandbänke und Inseln in den Mündungstrichter der Elbe setzen, um der einlaufenden Flutwelle Kraft zu rauben. Die Löcher im Meeres und Flussboden, aus denen das Material für die Sandbänke gewonnen wird, sollen mit Baggergut aus der Elbe und dem Hafen gefüllt und es sollen neue Überflutungsflächen geschaffen werden.

Die nächste Elbvertiefung soll trotzdem kommen. „Wir wollen die Fahrrinne so gestalten, dass der Tidenhub nicht gravierend verstärkt wird“, sagte Jörg Oellerich von der Hamburger Wirtschaftsbehörde. Während der Wirtschaftsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtages am vergangenen Freitag seine Unterstützung für die Elbvertiefung bekräftigt hat, stellt sich Niedersachsen quer: Erst müssten die Folgen der 1999er Vertiefung analysiert werden, forderte Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP). Die Umweltschützer des Hamburger BUND erkennen in dem Tideelbekonzept derweil durchaus Schnittmengen mit dem Naturschutz. Die nächste Elbvertiefung, bei der 38 statt wie beim letzten Mal 13 Millionen Kubikmeter ausgebaggert würden, lehnen sie aber ab.