ausgehen und rumstehen
: Evolutionstheorien in der Ruhezone

Hoch über mir, im kunstvoll hingeblasenen Nebel, drohte ein fremdartiges fliegendes Objekt mit magentafarbenem Fleckfieber. Dann brach in meinem Rücken ein monströses Robbie-Williams-Karaoke los. In Alkohol gelöste Zungen sangen: „I’m loving angels instea-head“. Vor dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Kinder versorgten wild gewordene Hemdsärmelige die Rabatten mit allerlei Körperflüssigkeiten. Freitagabend, Alex, WM, Ausnahmezustand.

Am Tresen meiner Bar des Vertrauens stellte mir David seine Begleitung als „jüngste Isländerin in Berlin“ vor. Wie alle Isländer waren die beiden miteinander verwandt. Die jüngsten männlichen Isländer der Stadt wohnen sogar seit einigen Wochen hier in der 8mm-Bar. First we take Berlin, werden sie sich gesagt haben, wenn wir es hier schaffen, schaffen wir’s überall, und reinigen die Klos oder sammeln Gläser und Flaschen ein, um Teil dieser Bewegung zu sein. Wer wie Anja hinter der Bar schon länger dabei ist, hasst einen Menschen vielleicht, bloß weil er ein Bier bei ihm bestellt oder nach dem Weg zum White Trash fragt. Die freundlichen Isländer aber lieben alles und jeden hier. Nur manchmal mustern sie einen und scheinen sich insgeheim zu fragen, ob man denn auch wirklich dazugehört, bevor sie einem ihr großes Lächeln schenken. Für Fußball interessiert sich hier übrigens keine Sau. Auch die Isländer nicht.

Im Rio schon. Doch dafür war es am übernächsten Morgen bereits wieder zu früh. Die Lichtbildinstallation des bulgarischen Lichtbildkünstlers Vladimir um die Wortspielerei Sucker/Soccer wurde gerade ausgeblendet, um den Auftritt der Chicks on Speed zu signalisieren. Auf Kraut-und-Rüben-Dias stand jetzt „Chicks on Speed“ für alle zu lesen und ein Strahler unterm DJ-Pult zauberte eine Zweidrittel-Silhouette von Kiki Moorse an die Wand in ihrem Rücken. Das sah irre sexy aus. Nur weil Moorse das Arm-hochreiß-und-kreisch-Potenzial der Regler und lockend leuchtenden iPods vor sich ignorierte und jede Effekthascherei meisterlich mied, verdrückten wir uns auf die Sitzkissen der Ruhezone. Wegen Effekthascherei war man schließlich hier. Gespräche über die evolutionäre Funktion von Brüsten (der Arsch für vorne oder so) rundeten den Abend ab ins Eckige. Das Denken würde heute nicht mehr groß die Richtung wechseln. SASCHA JOSUWEIT